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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 23.1906

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https://doi.org/10.11588/diglit.6366#0034
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4944

Coleranz«0efö)idt)te

liebst angetzängler moral.

(Ein frommes weiblein morgens früh
Ging tugenöfam der Kirche zu,

Die Sünden abzulegen.

Und als fie in den Beichtstuhl kam,

Das pfäfflein ins Gebet sie nahm
van dies- und dessentwegen.

Das Weiblein mußte da gestehn,

Ls fei viel Ärgernis gefchehn
van ihrem Herrn Gemahle.

Derselbe trage täglich aus

Die Zeitung, und die sei — a Graus! —

Halt eine liberale!

„© Weiblein", sprach der Gattesmann,
„Denkst du nicht an den Kirchenbann
Und an das HäUenfeuer?

Bedenk der Teufel argen Hohn!

Zur euern Kolportagelohn
Zahlst du im Jenseits teuer!

„Solang dein wann in Zrevelmut
Dem bösen Zeinde Vorschub tut
Durch Zeitungskolportieren,

So lang gibt es Vergebung nicht,

Denn mir verbietet meine Pflicht,

Dich hier zu absolvieren."

Das arme Weiblein heimwärts ging
Und schrecklich an zu weinen fing
Am Wams des Kolporteures.

Der aber reckte hoch die Hand:
„Geliebtes Weib, die arge Schand,

Die räche ich, ich schwör' es!"

Zum Redakteur eilt' er sogleich;

Der hat den neuen Pfaffenstreich
Gehörig vorgenommen;

So ist die Kunde nach Berlin
Und noch nach andern (Orten hin
Zn Lile hingekommen.

Zedwede liberale Brust

Die schwellte hoch in Kampfeslust

Und schwor dem Römling Zehde.

Zn Süd und Rord wird „voll und ganz"
Gebrandmarkt die Intoleranz
Zn vielen schönen Reden.

Werk: Dieses ist echt liberal;

Entrüstung gibt es allemal,

Doch nur bei Beichtstuhldingen.
Hingegen bleibt's im Lande stumm,
Wenn reiche protzen ringsherum
Die Hungerpeitsche schwingen, s-cundu».

Der Geschworene.

Von Sans Lyan.

Max Edenweiler strich vor dem Spiegel be-
haglich seinen grauen Vollbart, den er, in der
Mitte auseinandergekämmt, in einer aparten
Form trug und sorgsam pflegte. Seine schöne
große Gestalt hatte, obgleich er die Fünfzig
schon überschritten, ihre gute Proportion be-
halten, er war immer noch das, was man
einen schönen Mann nennt und war sich dessen
wohlbewußt.

Die Familie stand früh auf. Es war erst
halb neun Uhr, aber Edenweiler hatte sein
Frühstück schon genossen.

Seine Frau saß noch am Kaffeetisch. Eine
füllige Gestalt im sauberen, adretten Morgen-
kleid, das hellblonde Haar unter dem Morgen-
häubchen aufgesteckt und mit der Miene behag-
licher Zufriedenheit ihre Schokolade löffelnd.
Dabei las sie die Romanfortsetzung, die ihr
Spaß machte, ohne daß die Schicksale der Hel-
den sie sonderlich aufregten.

Als sie zu Ende war und aufblickend ihren
Mann noch immer vor dem Spiegel erblickte,
sagte sie mit einem halb mütterlichen Lächeln:

„Ja, ja; noch immer der schöne Max! Du
wirst nicht älter!"

Es klang wie ein ganzes kleines bißchen
Neid aus ihren Worten.

„Will ich auch nicht!" lachte er, „du weißt
doch, Mutter, ich habe nun mal die verdrehte
Idee, daß ich nicht sterben werde! Gewiß,
alle Leute sterben, aber bei mir, da muß die
Sache Halt machen!"

Sie lachte auch. Aber plötzlich wurde sie
ernst, ihre großen blauen, nicht eben aus-
drucksvollen Augen blickten, als sähen fie häß-
liche, unangenehme Dinge, und sie sagte, in
einer begreiflichen Folgerung seiner Idee:
„Und du meinst, Max, daß ihr den armen
Menschen heute wirklich verurteilen werdet?"

Er verstand nicht gleich, dann sagte er, auch
ernster, aber scheinbar absichtlich in gleich-
gültigem Tone:

„Ach was, armer Mensch! Du meinst doch
den Birkner? Na, das ist doch ein gemeiner
Meuchelmörder! Weiter gar nichts!"

„Aber du sagst doch selbst, Max, es ist ihm
nichts zu beweisen?"

„Direkt nicht, das ist wahr! Aber indirekt!
Dafür gibt es doch 'n Indizienbeweis! Sonst
brauchte man ja gar keine Zeugenaussagen!
Nee, nee, da ist gar kein Zweifel, der ist es
gewesen!"

Sie schien sich überzeugen zu lassen: „Also,
du meinst wirklich, daß er der Täter ist, Max?!

Na freilich, dann . .. straflos ausgehen darf
natürlich so einer nicht! Wohin sollte denn
das führen. . ."

Es klingelte draußen. Beide horchten un-
willkürlich hinaus.

Dann kam Frida, ihre jüngere Tochter, die
einzige von dreien, die noch unverheiratet war,
hinein. Sie war ein Bild von einem Mädchen,
blond und rosig, wie die Mutter, und von
einem Schmelz, einer Zartheit der Haut und
der Farben, die jeden entzückte.

Ihre tiefblauen Augen auf den Vater rich-
tend, sagte sie mit ihrer sanften Stimme:

„Papa, eine Frau möchte dich sprechen!"

„Wer denn?"

Das junge Mädchen zuckte die runden Achseln:

„Ich weiß nicht, Papa."

„Na, wie sieht sie denn aus, ist es eine
Dame?"

Frida schüttelte den Kopf:

„Nein, ich glaube nicht... sie macht den
Eindruck, als ob sie arm wäre."

„Ach, dann geh, mein Kind, und sage ihr,
ich habe jetzt keine Zeit."

Und sich entschuldigend setzte er hinzu:

„Um zehn Uhr muß ich auf dem Gericht
sein! Es ist überhaupt ein Zufall, daß ich
jetzt noch hier bin. . ."

Die Blondine wandte sich zögernd imd ging.
Hinter ihr her flogen die Augenpaare der
beiden Eltern und begegneten sich und sagten:

„Ist sie nicht bezaubernd?! Gibt es etwas
Holdseligeres und Lieberes?"

Aber die Kleine kam gleich wieder, Angst
und Besorgnis auf dem jungen Gesicht. Und
hastig sagte sie: „Die Frau will nicht gehen!
Sie sagt, sie wartet vor der Tür, bis du raus-
kommst, Papa! Nur eine Minute will sie dich
sprechen, aber es muß jetzt gleich sein, Papa!...
Was soll ich ihr denn sagen?"

Und die Augen des vergötterten Kindes
baten so, daß dem Vater keine Wahl blieb.

„Na, dann führ sie in mein Arbeitszimmer,
Fridchen! Aber wahrhaftiger Gott, man hat
doch auch keinen Moment Ruhe!"

Er zupfte rasch Kragen und Schlips zurecht,
strich den koketten Bart noch einmal gerade
und ging dann, sich einen Schwung in die
Taille gebend, mit elastischen Schritten durch
den Salon in sein Arbeitszimmer.

Dort stand eine Frau von vielleicht vierzig
Jahren. Sie hielt das Umschlagetuch, mit dem
fie. an diesem kalten Wintertage die nur in
einer dünnen Kattunbluse steckenden Schultern
schützte, fest mit ihren abgemagerten Händen
zusammen. Das nußbraune Haar auf dem
bloßen Kopf war noch voll und hing ihr im
 
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