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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 25.1908

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https://doi.org/10.11588/diglit.6608#0024
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- 5692

Eine Erklärung des Zaren.


„Mein Programm ist die Beruhigung und Erneuerung Rußlands."

Sterben.

Skizze aus dem russischen Freiheikskampf.

Von Paul Enderling.

„Kein schönrer Tod ist in der Welt,

Als wer vorm Feind erschlagen ..

(Altes Landsknechtslied.)

Wassili Jewejew war hinausgegangen. Sie
hatten Rufe gehört, dann ein, zwei Schüsse
und einen gellenden Schrei. Dann war es
wieder still. Aber Wassili kam nicht mehr
zurück. Auf dem Blachfeld, das weiß war wie
der Winterhimmel, lag eine steife, schwarze
Gestalt_

Nun wußten sie, daß alles verloren war,
daß irgend ein Zufall das einsame Haus an
der Heerstraße als Treffpunkt der Freiheits-
kämpfer und Stapelplatz ihrer Schriften und
Bücher verraten hatte.

Wenn der Tag kam, würden die da draußen,
von denen sie jetzt umstellt waren, sie fangen
wollen und sie töten, wie sie den jungen Wassili
eben getötet hatten. Jeder fühlte nach der
Waffe, die er bei sich trug; denn es galt, sein
Leben für einen hohen Preis ivegzugeben und

mindestens einen der Schergen mitzureißen in
das Nichts.

Wenn der Tag kam, war alles zu Ende.
Wenn der Tag kam. . . .

Aber nun neigte sich die Nacht auf die Erde
und hüllte alles in ihren schwarzsamtenen
Mantel.

Keiner sprach ein Wort. Sie kannten hier
einander kaum bei Namen. Sie wußten von-
einander nur, daß sie für die Freiheit ge-
arbeitet, gelitten und geblutet hatten. Also
ivaren sie Brüder und Schwestern. Auch einige
Frallen befanden sich in dem großen, kahlen
Raum, dessen Tische und Stühle — andere
Möbel gab es darin nicht — in dem ungewissen
Licht zu zittern und zu leben schienen.

Woloschenko wickelte sich in seinen Mantel
und setzte sich an die Erde in einem Winkel.
Seine Blicke waren starr in den Raum ge-
richtet, ohne etwas Bestimmtes zu erkennen,
und sein Geist arbeitete hastig, unaufhörlich,
ohne doch einen einzigen Gedanken festhalten
zu können.

Er durchlebte sein ganzes Leben von An-
fang an und begann wieder bei den Kinder-

jahren und kam nicht darüber hinweg: hätte
er seine Mutter gekannt, er hätte jetzt etwas
gehabt, woran er weichen, reinen Herzens hätte
denken können. So war sein Leben hart und
schwer gewesen. Der Vater war vom Gerüst
gestürzt und als Leiche in das Haus gebracht.
Er kam zu fremden Leuten, wurde bis auf das
Blut ausgenutzt und um Jugend und Freude
gebracht. Dann kamen die grauen, elenden
Jahre, wo er nichts anderes kannte, als mit
den anderen tagaus, tagein in dem großen
Fabrikgebäude, das wie ein Gefängnis aus-
sah, zu fronden. Für sich blieb ihm trotzdem
nur soviel, um wieder Kraft für den nächsten
Tag sammeln zu können. —

Plötzlich fühlte er, wie sich eine Gestalt
neben ihm niederkauerte, und wie eine Hand
über seine Wange glitt. Ein-, zweimal. Sorg-
sam, zart, vorsichtig wie einem Kranken, dem
man fürchtet, wehe zu tu».

Er wehrte nicht ab und ließ es ruhig ge-
schehen. Es tat so gut. So gut.

Ein Nachbar zündete eine Zigarette an.
Beim Aufflammen des Streichholzes erkannte
er Marfa Lokonska, die er seit einem Zu-
sammenstoß mit der Warschauer Polizei ge-
fangen glaubte und vorhin nicht erkannt harte.
Sie hatte trotz ihrer Jugend bereits viel ge-
leistet und war mutig in allerlei Verklei-
dungen in den schwierigsten Positionen tätig
gewesen.

So fragte er auch nicht, wie sie hierher
käme, sondern drückte nur ihre Hand, auf der
er einen kalten Schweiß verspürte. Die Hand
war knochig und mager und sprach von Leid
und Entbehrung, aber auch von Energie.

Und mit einem Male fiel von Woloschenko
alles Quälende, Peinigende, Schmerzliche ab,
und er schämte sich, daß er vorher so verzagt
gewesen. War sein Leben nicht schön und
leuchtend gewesen seit dem Tage, wo der
zündende Funke in seine müde Seele gefallen
war? Seit dem Tage, wo er sich den Send-
boten des Freiheitskampfes angeschlossen und
sein Leben, sein bis dahin zweckloses, unnützes
Leben ein Ziel gefunden hatte, auf das es
zustrebte? Und nun starb er, starb wie die
Helden in den alten Geschichtsbüchern, für
eine große, heilige Sache, der er auch durch
seinen Tod noch diente. Nicht wie die anderen,
die auf ihrem Lager verröchelten mit der furcht-
baren qualvollen Frage im brechenden Auge:
war das alles? —

Plötzlich sagte einer ganz laut in das
drückende Schweigen: „Ich hätte doch gerne
noch ein Jahr gelebt!"

Und als das Schweigen anhielt und ihn:
zu grollen und zu drohen schien, fügte er
hastig, entschuldigend, hinzu; „Es ist nur, weil
dann Tatja, meine kleine Tatja zur Schule
geht!" Sie kannten ihn alle; es war der kleine,
verwachsene Lehrer. Aber keiner antwortete.
Nur ein kurzes, heiseres Lachen klang aus
einem Winkel. Das kam von Woloschenko ...

Die Dämmerung stieg fahl und kalt auf. Ein
gelblich-roter Schein rann über das Schneefeld.

Das Schweigen, das so lange auf ihnen
gelastet hatte, hielt sie auch jetzt noch im Bann,
wo sie einander sehen konnten.

Still drängten sie sich um die beiden Fenster
und sahen aus das Feld, über das langsamen
Schrittes der Tod kam.

Woloschenko und Marfa hielten sich fest
umschlungen und starben auch so. Wie alle
ihre Freunde.

Aber die funkelnden, erlösenden Gedanken
und Ideen starben nicht. Die flatterten wie
ein verscheuchter Vogelschwarm in alle Lüfte.
Über Steppen, Städte, Wälder und Meere
hinweg. Und klagten an und klagten an . . .
 
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