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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 25.1908

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https://doi.org/10.11588/diglit.6608#0139
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Am Müggelsee bei Berlin.

-o o o-

Frühling.

Skizzen von Paul Enderling.

Hof, vier Trcxxen.

Der dicke Portier, der sonst so prächtig seine
Würde herauszubeißen versteht, wird außer-
gewöhnlich höflich, als er der jungen, eleganten
Dame Bescheid gibt: „Fräulein Erdtmann, die
Schneiderin? Wohnt vier Treppen, Hos links
— bitte."

Das junge Mädchen sieht sich etwas miß-
trauisch in dem engen, grauen, schmutzigen Hof
um, der wie ein Kaminschacht ist und dessen
Traurigkeit der einzige verkümmerte Baum
noch besonders hervorhebt. An dem Baum sind
noch keine Knospen zu sehen. Hier kommt der
Frühling später als anderswo ...

Man lnerlt es jedem ihrer Schritte, jedem
ihrer Blicke an, lvie ungewohnt ihr dies Milieu
ist: dieser Hausflur, iü dem der Kalk von den
Wänden fällt, diese ausgetretenen Treppen,
diese Gerüche aus den kleinen Werkstätten und
Wohnungen.

Es ist auch zu dumm, daß die Erdtinann
sie gerade jetzt mit dem Kostüm im Stich ge-
lassen hat! Übermorgen ist der Wagenkorso,
zu dein sie es unbedingt haben muß.

Endlich ist sie oben.

Die Türe, an der ein weißes Pappschild mit
dem Namen der Schneiderin angenagelt ift,
steht offen. Eine alte, ärmlich gekleidete Frau
spricht ängstlich mit einem Mann, der im Halb-
dunkel des Entrees undeutlich zu erkennen ist.

„Wirklich tot, Herr Doktor?? Ach Gott,
ach Gott!"

„Ja. Der Tod muß schon seit mehreren
Stunden eingetreten sein. An ungenügender
Ernährung. Alte Geschichte!"

Die junge Dame fragt ängstlich: „Fräulein
Erdtmann?"

„Ja!" sagt die Alte mit gerungenen Händen.
„So jung zu sterben."

Und der Arzt setzt mit spöttischem Seiten-
blick auf die fashionable Toilette der Besucherin
hinzu: „Verhungert, meine Gnädigste!"

„Hat sie denn keine Arbeit gehabt?"

„Gearbeitet hat sie vom frühen Morgen bis
in die sinkende Nacht. Ha — als ob es darauf
wohl ankäme!"

Ein Schwindel erfaßt sie. Ist es der Arme-
leutegeruch, der sie umfängt? Ist es die un-
gewohnte Anstrengung der vier Treppen? Ist
es etwas anderes?

Sie wird sich darüber nicht klar.

Wortlos wendet sie sich und geht zurück,
oder vielmehr: sie jagt hinunter, als flüchte

sie vor etwas Furchtbarem, Grausamen, Ent-
setzlichen, das ihr auf den Fersen sitzt.

Und nun steht sie draußen, sie, die mit ihrem
frischen, gesunden, rosigen Gesichtchen selbst
wie ein Lenzgedicht aussieht, und atmet er-
leichtert auf, als Sonne und Vogelzwitschern
um sie ist.

Aber es hilft ihr nichts. In den blühenden,
duftenden, klingenden Frühlingstag trägt sie
Schritt für Schritt das Bild des Mädchens
da oben mit sich, das vom Morgen bis zum
Abend gearbeitet hat und dabei verhungert
— verhungert — ist.

Mhn« woir-n.

Der Wind kräuselt die Wellen des Wannsees.

Er umfächelt die Villen, die wie Schlösser
an dem bergigen Ufer aufsleigen, das von
weitem wie ein einziger riesiger, köstlicher Park
erscheint.

Er streichelt über die grünenden Baumkronen
und über die Menschen hin, — auch über die
beiden behäbigen Damen, die dort auf dem
Balkon sitzen und Cakes in ihren Tee tauchen.

Frau Kommerzienrat und Frau Professor,
die beiden unzertrennlichen Freundinnen, sehen
sich beide an und seufzen aus Herzensgründe.

„Ach ja. Nun ist der Frühling da. Und die
Saison ist zu Ende."

„Ja, Theater und Konzerte gibt's so gut
ivie gar nicht mehr. Aber dafür die Sorge: wo
reist man zum Sommer hin?"

„Ach ja. Wenn man das nur erst wieder
wüßte! Monatelang ärgert man sich damit.
Und diese Reiseunbequemlichkeiten, diese Hitze,
der Staub, die unverschämten Kellner und
Führer. Nein, wenn ich an Italien denk' im
vorigen Jahr — nie wieder dahin! Lieber in
Berlin bleiben!"

Die Freundin lacht. „Das glaubst du doch
selbst nicht, daß man es jetzt in Berlin aus-
halten kann. Und außerdem: haben sich unsere
Liebenden nicht dort kennen gelernt?"

Beide blicken in den Garten, in dem die
modisch gekleideten Gestalten eines Pärchens
zu sehen sind.

„Ja, in Florenz."

„Nun siehst du wohl?"

„Ach ja, für die ist das so ’n rechter Früh-
ling. So poetisch!"

Eine Weile denken Beide angestrengt dar-
über nach, wie poetisch das ist, und vergessen
darüber ganz den Tee.

Plötzlich fragt Frau Professor: „Hat er denn
auch Geld?"

„Aber ich bitte dich, Amalie: ihm gehört

doch die Fabrik, die ihm sein Onkel vermacht
hat!"

„Na ja. Ist sie sehr bedeutend?"

„Fünfzig Arbeiter!" sagt Frau Rat sehr ent-
rüstet, aber mit deutlich durchklingendem Stolz.

„Ja, dann allerdings, liebe Thea! Fünfzig
Arbeiter! Ja, da können sie um ihre Zukunst
unbesorgt sein!"

„Nicht wahr? Der liebe Gott hat es doch
recht gut mit ihnen gemeint."

Der Wind fegt die letzten Wölkchen fort,
die wie kleine Wattebäusche davonflattern.
Und der Himmel blinkt jetzt stahlblau ivie in
Italien...

r o o o

Oie Beiden.

Sie wohnen nun ein halbes Jahr in ihrem
neuen Heim.

Das „Heim" ist eine Stube, die auch zugleich
Küche ist. Die paar Möbel sind neu, aber ein-
fach und schlecht gearbeitet und arg bestoßen:
Abzahlungs-Möbel, die sich hier fremd zu fühlen
scheinen, als ahnten sie, daß sie bald — bei
der ersten versäumten Rate — wieder abgeholt
würden. Aber am Fenster hängt ein kleines
Bauer mit einem lustig schmetternden Fink,
und auf dem Fensterbord steht ein Blumen-
topf. Und die billigen Tüllgardinen sind blitz-
sauber.

„Schon zwei Monate ausgesperrt! Und iver
weiß, wie lange noch. Was soll bloß werden?"
Wieder stiert er vor sich hin.

„Ach, es wird schon werden, Karl. Etwas
Geld ist ja noch da. Es ist nur dumm, daß
ich nun auch nichts mehr arbeiten kann."

Bei den letzten Worten blickt sie errötend
an sich herab.

„Das fehlte noch, Schatz!"

Er sieht in ihre großen Augen, die in dem
blassen, elenden Gesicht noch größer als sonst
erscheinen.

„Wie schön die Frühlingssonne hereinscheint,
nicht? Siehst du: die können sie uns nicht
aussperren."

Da zieht er ihren blonden Wuschelkopf an
sich. Sie küssen sich und vergessen in diesem
Kusse alles. Nur nicht denken!

„Wenn wir uns lieb haben", sagt die junge
Frau, „was soll uns dann geschehen?"

Plötzlich — hat es nicht geklopft?! Aber an-
ders als mit Menschenhand: hohl, warnend,
ängstigend, peinvoll.

Der Fink verstummt in seinem Bauer. Das
Licht verblaßt. Ein kalter Schauer weht durch
das Zimmer.

Und keiner wagt, zu öffnen: als fühlten sie's
Beide, daß das Elend vor der Türe steht...
 
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