Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 27.1910

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.6708#0389
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
6856

des „Antidühring" über die Gewalttheorie, 1893 im „Vorwärts" .
über die Abrüstungsfrage, und in Gelegenheitsaufsätzen in der „Neuen
Zeit" behandelt. Dazu kommen noch ungezeichnete Aufsätze in mili-
tärischen Fachzeitungen, die sich aber vorläufig noch'nicht genau be-
stimmen lassen.

Was alle die aufgezählten Arbeiten auszeichnet, ist ihre strenge
Sachlichkeit, die Unabhängigkeit Engels' von überlieferten Schlag-
worten und Liebhabereien. Er war selbstverständlich weit davon ent-
fernt, die Urteile der Militärs von Fach für unfehlbar hinzunehmen.
Er wußte, wie oft da Fachzopf, unterstützt durch politische Vorurteile
und Interessen, das Urteil beengt. Aber er verfiel nicht in den ent-
gegengesetzten Fehler, nun über die Fachmänner in Bausch und Bogen
abzuurteilen. Wo er tüchtige Leistungen sah, erkannte er sie auch an;
die Urteile bedeutender Praktiker und Theoretiker des Militärwesens hat
er, mochten diesePersön-
lichkeiten ihm als Poli-
tiker noch so antipathisch
sein, in diesen Aufsätzen
durchaus gelten lassen.

Ein Urteil über den wis-
senschaftlichen Wert sei-
ner militärischen Ab-
handlungen kann natür-
lich nur der Fachmann
abgeben, aber es wurde
schon bemerkt, daß man
ihnen in fachmännischen
Kreisen in der Tat große
Beachtung gezeigt hat.

Wie Engels in der Unter-
haltung auf Leute wirkte,
die etwas von der Sache
verstanden, dafür ein
Beispiel.

Als er einmal bei dem
verstorbenen l)r. Kugel-
mann in Hannover zu
Besuch war, erzählte die-
ser einem hohen preußi-
schen Offizier von ihm
und fragte den Herrn,
ob es ihn nicht gelüste,

Engels kennen zu lernen.

Der Gefragte hatte erst
seine „Bedenken". Als
er sie aber überwunden
hatte und doch kam,
konnte er seine Unterhal-
tung mit Engels über
militärische Dinge nicht
lang genug ausdehnen
und äußerte sich hinter-
her ganz begeistert über
dessen Wissen.

Und doch waren die
„Militaria" nur ein
Zweig von Engels'wis-
senschaftlichemStudium.

Ungewöhnlich waren auch seine Sprachkenntnisse, unverwüstlich sein
Hang, philologische Übungen zu treiben. Es geschah in einer Zeit,
wo er nach vollbrachter Bureauarbeit für Marx Artikel schrieb oder
übersetzte, dazwischen langatmige Korrespondenzen mit auswärtigen
Parteifreunden führte, Zeitungen für späteren Gebrauch auszog und
ähnliche Parteiarbeiten verrichtete, so daß man hätte annehmen mögen,
er sei am Zusammenbrechen, daß er Marx in einem Brief plötzlich
mit der Bemerkung überraschte, er habe, da er sich grade mit Werken
über persische Volksentwicklung befasse, dies zum Anlaß genommen,
Persisch zu lernen, und es zu einer ziemlichen Beherrschung der
Sprache gebracht. Ebenso hatte er es in verschiedenen Zweigen
der Naturwissenschaften zu sehr bedeutenden Spezialkenntnissen ge-
bracht. In der Chemie zum Beispiel nahm er es mit ausgelernten
Fachleuten auf.

Allerdings lernte er leicht. Aber man muß daraus nicht schließen,
daß er es mit dem Lernen im technischen Sinne des Wortes „leicht"
»ahm. Er arbeitete sich viele Bücher gewissenhaft schriftlich durch,
bei denen ein anderer sich mit dem einfachen Lesen begnügt hätte.
Selbst seine Briefe setzte er, der so Schreibgewandte, sich gewöhnlich
erst im Entwurf auf, ehe er sie für den Empfänger niederschrieb. Das
erhöhte natürlich sein Arbeitspensum bedeutend. Wenn er davon wenig
sprach, so konnte er indes doch eigentlich nur bei Leuten, die sich an

Äußerlichkeiten in seinen Schriften und seinem Auftreten hielten, in
den Ruf eines „Lebemannes" kommen. Ein solcher hätte nie das ge-
leistet, was Engels verrichtet hat. Gewiß, er war kein Asket und hul-
digte durchaus einer freien Lebensauffassung. Er teilte mit der Schule
Fouriers die Auflehnung gegen die Unterwerfung der Neigungen
unter herkömmliche Vorurteile und könnte auch als Verfechter der
vou den radikalen Saint-Simonisten verfochtenen „Emanzipation des
Fleisches" bezeichnet werden. Aber er übersah nicht, daß es da Grenzen
gibt, die durch das soziale Interesse gezogen sind, und soiveit dieses
Interesse vor der Vernunft besteht, hat er ihm durchaus Rechnung
getragen. Für das andere sorgten seine Geistes- und Gemütseigen-
schaften. Wie ihn sein Intellekt immer wieder zu geistiger Arbeit zog,
so ließen schon die Grundzüge seines Gemüts — Gutherzigkeit und
Treue — es nicht zu, daß er sich jemals im reinen Genußleben verlor.

Er gab sich in seinen
Schriften manchmalrück-
sichtslos, und sein leb-
haftes Temperament zog
ihm manchen Konflikt zu.
Aber so schnell er auf-
brausen konnte, so schnell
Ivar er auch bereit gut-
zumachen, was er in der
Hitze etwa gefehlt, und
so scharf er politisch emp-
fand, so rücksichtsvollund
aufmerksam war er im
persönlichen Verkehr.

Über seine Bedeutung
als Theoretiker der Ar-
beiterbewegung ist we-
nig zu sagen, was nicht
als anerkanntes Kapitel
der Geschichte des Sozia-
lismus heute Gemeingut
aller Sozialisten ist, die
sich mit ihr bekannt ge-
macht haben, und das
soll jeder tun. Er selbst
hat seinen Anteil an der
Ausarbeitung der Theo-
rie deS modernen Sozia-
lismus gern geringer er-
scheinen lassen, als er in
Wirklichkeit war, und für
eine genaue Abschätzung
liegt selbst heute noch
nicht alles Material vor.
Aber wenn selbst seine
Darstellung des Verhält-
nisses zuträfe, so würde
doch so viel bestehen blei-
ben, daß wer als Drei-
undzwanzigjähriger die
„Umrisse zu einer Kritik
der Nationalökonomie"
und alsVierundzwanzig-
jähriger das Buch über
die „Lage der arbeitenden Klasse Englands" schreiben konnte, ein
ungewöhnlich schöpferisch denkender Geist war, und daß schon diese
Arbeiten Grund legten zu bahnbrechender Weiterführung der sozia-
listischen Theorie. Daneben aber wird Engels im Gedächtnis der
Internationale fortleben als derjenige, der es in unvergleichlicher
Weise verstanden hat, mit den Köpfen auch die Herze» für die
neue Auffassung zu geivinnen. Lange Jahre hat er die Ausgabe
des Mittlers erfüllt, in den Organen der Sozialdemokratie die An-
wendung der Theorie auf praktische Fragen der verschiedensten Art
aufgezeigt. - . , , „ .

Mit dem Fortgang der Entwicklung des Wirtschaftslebens und
der modernen Arbeiterbewegung traten ganz neue Frage» auf und
viele ältere Fragen ändern ihre Form. Nicht auf alle Probleme
des Arbeiterkampfes der Gegenwart findet man die Antwort flx und
fertig in den Schriften von Marx-Engels. Für vieles, was uns
heute beschäftigt, sind nur die leitenden Gesichtspunkte allgemeiner
Natur in ihnen gegeben. Aber solange er lebte, war Friedrich Engels
allezeit williger Ratgeber auch für die Fragen des Tages. In seinem
Denken und seinem Wesen stand er der Arbeiterbewegung als ihr
getreuer Eckart zur Seite, und den treuen Lehrer, Wegweiser und
Freund feiern ivir an dem Tage, wo er vor neunzig Jahren das
Licht der Welt erblickte. Ed.Bernstein.

Friedrich Engels, August Bebel unv Frau Bebel in Zürich nach dem
Internationalen sozialistischen Kongreß I89Z.
 
Annotationen