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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 30.1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.7671#0386
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— 8142

Hermann Kurz.

Zum hundertsten Geburtstag des Dichters.

Ter überwiegend ästhetischen Welt- und Le-
bensanschauung, die die Renaissance beherrscht
und in der Rokokoperiode noch eine kurze Nach-
blüte gehabt hatte, war mit dem Aufkommen
des bürgerlichen Zeitalters ein jähes Ende be-
reitet worden. Die große französische Revolu-
tion bezeichnet den entscheidenden Wendepunkt
für die westeuropäischen Kulturstaaten. In
Deutschland, das in der wirtschaftlichen und
daher auch in der geistigen Entwicklung hinter
diese» zurückgeblieben war, trat der Umschwung
erst während des ersten Drittels desneunzehnten
Jahrhunderts ein. Immer inehr drängten sich
die rein praktischen Interessen in den Vorder-
grund auch des sogenannte» geistigen Lebens,
und das bisher idealistisch hochgestimmte Zeit-
alter nahm ei» ausgesprochen nüchternes und
realistisches Gepräge an. Anstatt, ivie es iväh-
rend der soeben verstossenen klassischen Literntur-
periode geschehen ivar, sich vornehmlich über
ästhetische und künstlerische Fragen die Köpfe
zu zerbrechen, debattierten die führenden Geister
jetzt über technische, wirtschaftliche, soziale und
politische Probleme. Das Zeitalter der großen
Erfindungen, das Zeitalter des Dampfes und
d.r Elektrizität, das Zeitalter des bürgerlichen
Kapitalismus und der modernen staatlichen und
gesellschaftlichen Umwälzungen bereitete sich
vor. Auf diesem neuen Kulturboden, auf dem
unvergleichlich Großes gediehen ist, waren er-
klärlicherweise für die Künste und die Künstler
keine rechten Nährstoffe vorhanden. Die Lite-
ratur, die Malerei und die Bildhauerkunst
gaben im günstigsten Falle den hausbackenen
Fest- und Feiertagen eine Art höherer Weihe,
in der Regel aber mißbrauchte das zur Herr-
schaft gelangte Bürgertum sie lediglich als pro-
fanes Unterhaltungs- und Zerstreuungsmittel
für müßige Stunde». Das Publikum verlangte
auch von derKunst vor allem prallst cheNutzungs-
iverte: sie sollte sich mehr an den Verstand als
an die Phantasie wenden, sie sollte nützliche
Kenntnisse verbreiten oder im Dienste irgend-
einer wissenschaftlichen, philosophischen oder
politischen Schule für deren Lehren Propa-
ganda machen. Der Künstler und Dichter, der
sich diesen Forderungen widersetzte, halte einen
schweren Stand; denn die Bourgeoisie, die neue
Herrin, duldete keine Seitensprünge, und ivenn
sie auch glücklicherweise nicht imstande war,
geschaffene künstlerische Werte zu vernichten
und den Schund unsterblich zu machen, so be-
saß sie doch die materielle Macht, über dein
schaffenden Künstler, der sich ihrem Geschmack
nicht beugte und allein der Kunst dienen ivollte,
die Hungerpeitsche pfeifen zu lassen. Und sie
hat allezeit von dieser Macht den weitestgehen-
den und verhängnisvollsten Gebrauch gemacht.
Kein Kulturzeitalter ist so reich an verkannten
Größen und Märtyrern der Kunst gewesen,
wie das neunzehnte Jahrhundert.

Auch das Leben des schwäbischen Dichters
Hermann Kurz, dessen Geburtstag am 30. No-
vember zum hundertsten Male wiederkehrt,

war ein Martyrium, wenn es sich auch in keiner
seiner wechielreichen Phasen direkt zur Tragödie
entwickelt, und wenn es auch einen, wenigstens
nach bürgerlichen Begriffen, versöhnlichen Ab-
schluß gefunden hat. Es war ein Martyrium
im doppelten Sinne: einmal insofern, als der
herrschende Zeitgeist das Wesen dieses D:ch-
ters, der eine reine Künstlernatur war, viel-
fach verfälschte und in der Entivicklung seiner
wertvollsten Anlagen hemmte, und zweitens
insofern, als das Gros der bürgerlichen Zeit-
genossen, auf deren Zuspruch der Dichter ideell
und materiell angewiesen war, für das Eigent-
lichste und Beste dieser Künstlernatur kein Ver-
ständnis hatte und seinem Schaffen die gebüh-
rende und notivendige Anerkennung versagte.

Als Sohn eines Kaufmanns wurde Hermann
Kurz in Reutlingen geboren. Die Eltern star-
ben früh, und wenn das Kind auch das Elend
der Armut nicht kennen gelernt hat, so ivar
die ivirtschaftliche Lage doch eine recht be-
schränkte. Der Knabe, der zu praktischen Be-
rufen iveder Neigung noch Fähigkeiten besaß,
konnte sich dein Studium widmen, aber er
mußte dasjenige wählen, zu dem die geringste»
finanziellen Mittel erforderlich sind: das theo-
logische. Der Fall ist typisch, denn die über-
wältigende Mehrzahl unserer sogenannten Seel-
sorger wendet sich bekanntlich keineswegs aus
innerem Drange, sondern unter dein Zwange
der wirtschaftlichen Verhältnisse dem geistlichen
Berufe zu. Man genießt als Student sein
Leben, soivcit die Mittel es erlauben, man wird
kurz vor dem Examen fromm und betreibt
dann das Pfarrgewerbe recht und schlecht,
ohne Beruf und Neigung, wie ein anderer
Stiefel flickt oder Zichorie verhökert. Bei Kurz
nahm die theologische Karriere nicht diesen
Verlauf. Er ivar zum Heucheln zu ehrlich, und
er ivar zu vornehm, als daß er das geistliche
Amt resolut und skrupellos als milchende Kuh
hätte handhaben lönnen. Er hat sich int Semi-
nar zu Maulbronn und im Stift zu Tübiüge»
zwar auf den Pfarrerberuf vorbereitet und er
hat diesen Beruf auch ein paar Monate als
Vikar tatsächiich ausgeübt. 'Aber schon den
Studenten nahinen neben den theologischen
Vorlesungen andere, seinem Naturell mehr zu-
sagende Interessen in Anspruch. Er vertiefte
sich in das Studium Shakespeares, Byrons
und Walter Scolts, er verschlang die poeti-
schen Werke seiner schwäbischen Landsleute
Uhland und Hauff und beschäftigte sich daneben
viel mit italienischer und spanischer Sprache
und Literatur. Ein Kreis von gleichgesinnten
Altersgenossen hatte sich in Tübingen zusänimen-
getan, und in dieser Tafelrunde, deren geist-
volles Treiben Kurz später in der Skizze „Das
Wirtshaus gegenüber" geschildert hat, gab cs
mannigfache Anregungen poetischer und künst-
lerischer Art. Auch unter den Dozenten fanden
sich einige, die den Bestrebungen und Inter-
essen des Reutlinger Musensohnes hilfreich ent-
gegenkamen: die philosophischen Vorlesungen

von Strauß, sowie Uhlands Sagengeschichte
und Stilübungen übte» ihren Einfluß aus.
Der zwanzigjährige Stildeut der Theologie,
dein wohl schon in den Maulbronner Jahre»
sein wahrhafter Beruf mehr oder weniger deut-
lich zum Bewußtsein gekoniuien war, wagte es
jetzt, als Schriftsteller öffentlich aufzutreten.
Eine Übersetzung Byronscher Gedichte, der Neu-
druck eines alten Faustbuchs und eine Samm-
lung von Epigrammen warnt seine ersten
Publikationen. Obgleich jeder aufmunternde
Erfolg ausblieb, so scheint dieser eiste Schrick
doch entscheidend gewesen zu sein. Kurz bestand
bald darauf seine theologische Dienstprüfung
und trat auch als Psarrgehilfe bei einem Ver-
wandten in Ehningen ein, aber er gab schon
nach kurzer Zeit die sichere Karriere endgültig
auf und beschritt die für eine» unbemiltelten
und weltfremden Idealisten doppelt dornen-
volle Laufbahn des freien Literaten.

Kurz siedelte in die Hauptstadt seines Heimat-
landes, nach Stuttgart über, >vo er neue ar-
beitsreiche und, erfolgarme Jahre, 1830 bis
1815, verlebte. Sein Brot suchte er sich als
Mitarbeiter an mehreren Zeitschriften soivie
durch Übersetzungen zu erwerben. Von eigene»
poetischen Produktionen erschienen in dieser
Zeit die „Gedichte", die Novellensammlung
„Gentianen" und die „Dichtungen", eine Kol-
lektion von Versen und Prosastücken. Diese Ar-
beite», die den Lyriker und vor allem den Er-
zähler Kurz bereits in seiner fertigen Eigenart
zeigen, erwarben ihrem Autor zwar bei den
Fachgenossen eine» sogenannten geachteten Na-
men, das große Publikum aber nahm kaum Notiz
von ihnen. Was sollte die bürgerliche Leser-
welt auch mit einem jungen Poeten anfangen,
der so gar keine Rücksicht auf ihren Geschmack
und ihr Unlerhaltungsbedürfnis nahm, der
die Anmaßung besaß, nur solche Stoffe zu be-
handeln, die gerade ihn angingen und ihn inter-
essierten, und der der Kunst auf seine ureigene,
ganz persönliche Art zu dienen sich erfrechte?
Daß die Gedichte keinen Widerhall fanden,
war ja selbstverständlich: das gepriesene „Volk
der Dichter und Denker" hat noch fast jeden
jungen Lyriker, der ihm ctivas Neues in sub-
jektiver Form zu sage» ivagte, mit Hohn oder
Nichtachtung zurückgewiesen, und der deutsche
Bürger liest bekanntlich, sobald er die Schul-
bank verlassen hat, überhaupt keine Gedichts
mehr. Woher aber der völlige Mißerfolg der
Novellen und Prosaskizzen kain, unter denen
sich so manches Kabinettstück ernster und humo-
ristischer Erzählerkunst findet, das hat Paul
Heyse, der ein treuer Freund des Dichters Kurz
war und ein äußerst scharfer Beobachter und
Kenner des lieben deutschen Publikums ick,
zweifellos richtig erklärt, wenn er sagt: „Erst
der fertige Künstler kann den Anspruch machen,
daß die Welt auch an seinen persönlichen Lieb-
habereien und den übermütigen Auswüchsen
der Entwicklungsjahre Interesse nehme." Mit
anderen Worten: der junge Poet soll zunächst
 
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