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Die Entgleisung

Kletnstadtgeschichte aus der guten alten Zelt
Von Ferdinand Madlinger

Schon sieben Stunden tobte der vaterlän-
discheFesttagstaumel in dem geräumigen Tanz-
saal des „Zähringer Hofes". Er wogte im
nebeldichten Zigarrenqualm durch beit Raum,
glühte als feurige Fürstenliebe auf hochroten
Gesichtern, brütete als übermütiges nationales
Kraftgefühl in der Glühhitze, die von zwei
Kohlenöfen ausgespuckt wurde.

Um 7 Uhr abends hatte es pünktlich be-
gonnen. Der umsichtige Wirt hatte die Öfen
tüchtig beschickt. „Heut muß was draufgehen,"
sagte er zu den Mägden; man wußte nicht,
meinte er Kohlen oder Getränke. Vielleicht
beides. Jedenfalls lag ein innerer Zusammen-
hang zwischen diesen beiden klärlich auf der
Hand.

Alles war zugegen, was zu den Gutgesinn-
ten zählte oder Wert darauf legte, dafür zu
gelten. Bestimmt fanden sich viele darunter,
denen dieBekundung vaterländischerGesinnung
durch Hochrufen leichter siel, als durch Abgabe
gewissenhafter Steuererklärungen. Das ufer-
lose Saufen, eine ohnehin nicht unbeliebte Tä-
tigkeit, diente heute dem ethischen Nebenzweck,
die bürgerliche Ehre zu steigern, und gewann
das Ansehen einer verdienstlichen Tat.

Reden waren gehalten, Toaste geschmettert.
Im offiziellen Teil die programmäßigen und
herkömmlichen ans Seine Majestät, den aller-
gnädigsten Landesherrn, das herrliche Kriegs-
heer und die kaiserliche Marine, auf das deutsche
Vaterland, die Kolonien, das heimische Armee-
korps. In der Fidelitas traten weitere hinzu,
solche auf die Stadt Steinach, auf die Gemüt-
lichkeit und gleich dahinter, gewissermaßen als
Kontrast, auf den Herrn Oberamtmann Willa-
reth, dann auf die Damen, auf den Herdfabri-
kanten, Stadtrat, Ehrenbürger und Millionär
Traub — er hatte zum Fest einen Banzen Bier
geschmissen —, dann auf den Bürgermeister,
den Stadtbaumeister und den Gaswerksdirek-
tor, und schließlich der Reihe nach auf jeden
einzelnen der in Gala anwesenden Herren Re-
serveoffiziere. Denn diese, im blitzenden Glanz
von Epauletten und Orden, verliehen dem
Kommers eine besondere Feierlichkeit und hoben
die Veranstaltung auf die Stufe einer unan-
zweifelbar „höheren" Sauferei.

Mit den schaumigen Strömen heller und
dunkler Biersorten wurden die durstigen Gur-
geln geschmiert und nach all den brausenden
Hurras, dem Schwertgeklirr und Wogenprall,
dem Lärmen und Rauchen zu neuen Gesängen
gestimmt. Der liberale und der bündlerische
Gesangverein gaben in edlem Wettstreit ihre
reizendsten Weisen zum besten. Die „deutschen
Turner" in ihren Porzellanernen mit schwarz-
weißroten Gürteln stellten waghalsige Pyra-
miden. Der oberste Mann schwenkte immer
zwei Fähnchen, ein schwarzweißrotes und ein
gelbrotes.

Die ernsten und heiteren Vorträge drängten
sich jetzt in fast zu rascher Folge. Des Beifall-
klatschens war kein Ende. Die Palme des
Abends errang unstreitig der bucklige Schnei-
der Schlicksupp mit seinem angeblich selbst-
gedichtetenOriginalcouplet„Der Turnerbruder
Knickcfilz", welches also anhub:

„Frisch, fromm, fröhlich, frei
Ist die ganze Turnerei.

Wenn die Mädel Turner sehn,

Ihre Herzen gleich aufgehn,

Und besonders nur für mich
Schwärmen sie ganz fürchterlich.

Wenn man in weißer Hose steckt,

Das macht Effekt."

Die dröhnenden Applaussalven, die auf den
poetischen Schneider niederprasselten, ließen
die andern Ehrgeizigen nicht ruhen. Alle Au-
genblicke schwang sich einer auf die Bühne,
Jeder Stift, der einmal etwas gelernt hatte,
wollte sein Licht leuchten lassen. Und wenn
er gefiel, gab er noch etwas drein; und später
kam er gewöhnlich nochmal, um „auf allge-
meinen Wunsch" ein Weiteres aufzusagen. Denn
der Erfolg steigert die Kräfte und befeuert
auch den Schwächsten zu ungeahnten Leistun-
gen. Und der Redakteur Nüßle von der „Bür-
gerzeitung" vermerkte gewissenhaft alle Namen
im Notizbuch.

Am Offizierstisch hatte sich inzwischen der
Lehramtspraktikant Sierming erhoben, ein fide-
les Huhn und bekannt als ausgelassener Spaß-
macher, wenn er gerade seinen Tag hatte.
Man glaubte, er suche den Hof.

Auf einmal stand er auf der Bühne. Er
schwankte merklich bei der Verbeugung und
mußte den Säbel zur Stühe nehmen, um seinen
Stand zu festigen. Und während das Stimmen-
gewirr, das Lachen und Zutrinken, das Klirren
der Biergläser an der Einschänke mählich ab-
flauten, legte er mit erkünstelt schnarrendem
Leutnantston zu einem Vortrag los:

„Gesimmngsparade!

Verwachsene Fräcke, die Hosen zu eng,

Die Gesichter rasiert und so feierlich streng,
Benzinduftgeschwängcrt die Weißen Glacös,

Mit Helmbusch die Herren vom Portepee.
Beamte, die nie man beim Gottesdienst sah,
Heut sind sie alle vollzählig da;

Beim Festessen donnernd der Trinkspruch schallt
Mit vielen Worten und wenig Gehalt.

Die Böller krachen, Hurra wird gebrüllt,

Der Seklpfrops knallt, die Begeisterung schwillt,
Und wer nicht am Abend sein Räuschlein hat,
Der gilt als Lump und Sozialdemokrat!"

Was war das? Die Festgesellschaft, soweit
sie überhaupt zugehört halte, war platt. An
den vordersten Tischen, bei den „Spitzen", trat
eine peinliche Stille der Verwunderung ein.
Doch währte sie nicht lange. Denn links drüben
auf den Bänken der kleinen Bürgersleute er-
hob sich ein lebhaftes, wie schadenfreudiges

Portokassen-Gent

„Seit den neuen Portosätzen halten mich alle für
einen valutastarken Ausländer."

Bravo, ein demonstratives Klatschen, fast ebenso
andauernd wie bei dem Vortrag des Schnei-
ders Schlicksupp. Am Offizierstisch war man
sichtlich betreten. „Skandal!" hörte man er-
grimmt rufen. Der humoristisch angeflogenr
Leutnant war selbstzufrieden, als hätte er den
blendendsten Witz gemacht, und wankte seinem
Platze zu.

Wie hatte er das gemeint? Satire oder Selbst-
ironie oder — ja zum Teufel, dieses Ding im
waschechten Wahren-Jacob-Stil war doch ei-
gentlich eine glatte Verhöhnung! Wie konnte
ein Offizier in Uniform —? Gott ja, wenn es
im intimen Kreis geschehen wäre! Im Herren-
zimmer drunten am Stammtisch! Aber hier
vor aller Öffentlichkeit? Man mußte doch das
Dekorum wahren vor den Spießern, ein Bei-
spiel staatserhaltender Gesinnung geben, oder
mindestens, wie der Berliner sagt: Man so
duhn! Wie kann ein gebildeter Mensch so aus
der Rolle fallen?

Man rang vergeblich nach einem Ausdruck,
um das beispiellose Vorkommnis befriedigend
zu kennzeichnen. Was wollte Geschmacklosig-
keit, Dummheit, Ungehörigkeit, Gemeinheit,
Frechheit und alles das besagen; diese Benen-
nungen erschöpften die Sache nicht. Erst der
Gemeinderat und PflästererGreulich prägte das
erlösende Wort. Für ihn war das Benehmen
des Praktikanten einfach eine „Schlappohrig-
kaait sunders gleiche", und er traf damit den
Nagel auf den Kopf.

Bedauerlicherweise war dem Täter nicht ein-
mal ein entfernter Schimmer von der Unge-
heuerlichkeit seiner Entgleisung beizubringen.
Die wohlgemeintesten Vorstellungen lallte er
weinselig hinweg mit dem Zitat: „Dies ist ein
— hupp — Gedicht von Goethe, der es eines
Abends spöte auf dem — hupp — Sofa noch
ersann." Zum Glück folgten nach kurzer Ver-
legenheitspause neue Rezitationen und ver-
wischten den schlimmen Eindruck.

Aber die Offiziere behandelten unter sich den
Fall weiter, und zwar mit der ganzen pflicht-
gebotenen Strenge der Auffassung. Sollte man
das Unglaubliche nicht dem Bezirkskommandeur
melden?

Oberanitmann Willareth, der Ehrenpräsident
des Gelages, wurde um seine Meinung an-
gegangen. Leider ohne Erfolg. Denn die Auf-
merksamkeit des vielbeschäftigten Oberamts-
hirten war während des fraglichen Vortrags
zum größten Teil eingeschlafen gewesen; den
wachen Rest hatte der Hauptmann der Land-
wehr und Postmeister Trarbach beansprucht,
der dem Oberamtmann lang und breit aus-
einandersetzte, daß es eine Frechheit von dem
anwesenden Geometer Lang sei, an Kaisers
Geburtstag seine Uniform als Deckoffizier an-
zulcgen, wozu er gar kein Recht habe. Uber
diesen Etikettesragen hatte er die „Gesinnungs-
parade" versäumt.

Demungeachtet nahmen die Erörterungen
ihren Fortgang, und der Redakteur Nüßle
drängte sich eifervoll an die Offiziere, denn
er brauchte einen Wink, welche Darstellung
von dem Skandal er morgen im Blättchen zu
geben hätte.-

Am andern Tag gegen Abend erschien die
„Bürgerzeitung". Der schwungvolle Festbericht
führte alle Redner auf und alle diejenigen, die
durch Vorträge „in so selbstloser Weise dazu
beigetragen hatten, die Stunden des Abends
zu würzen und zu kürzen und den Abend zu
einem angenehmen zu gestalten". Der umfang-
reiche Artikel schloß mit der üblichen und bei
solchen Anlässen kaum zu umgehenden Rede-
wendung, die Teilnehmer hätten sich in vor-
gerückter Abendstunde getrennt (die letzten
waren morgens um halb nach sieben aufge-
 
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