Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 49.1928

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8266#0398
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
• Der Wahre Jacob" erscheint >4 tägig an jedem 7WW 1. ew M Bezugspreis für Deutschland: 6tn:elnummer 40 pf.

zn-citen Sonnabend 3Ue postanstalten Suchhand- Ugf* ttl a[ f%l*g f SCOÖ Rcdaht: Berlin SW 68, K.indenstr.3. Vcrantwortl. f.d
lungen und der Verlag nehmen Bestellungen an. ^ redahtioncllen Ceil: friedrieh Wendel, Bln.-friedenau.

f'ür unverlangteBeiträgc wird keine Sarantie übernommen. Einsendungen ohne Rückporto werd. nicht zurüchgegcben. Hlle Rechte an sämtl. Beiträgen Vor-
behalten. Verlag u. Expedition ^ B. W. Dtetz Nacht. © m. b. B„ Berlin SW 68, Lindcnstr. 3. Druck Vorwärts-Buchdruchcrei, Berlin. — Hnzeigen-
annabmc durch die Hnxeigenabtcilung I B. W Dietz Macbf. 6. m. b. B, Berlin SW 68,1-tndenstr. 3, Cet.: Dönhoff 7653 (postsebeehhonto: Berlin 33193)
und alle Hnnoncen-gxpedittonen. - Verantwortlich für den Inseratenteil? Hlfred Jacob, Bcrlin-Baumschulcnweg. — Erfüllungsort Berlin-Mitte.

Die "WeiHnaGtspeedigt

Der alte Pastor Kruse rückte seinen Lehnsessel näher an
den Schreibtisch, zündete seine lange Pfeife an und machte
sich in beschaulicher Ruhe daran, seine Weihnachtspredigt
auszuarbeiten.

„hoffentlich," sagte er, indem er dampfenden Tee in sein
Glas goß und ihm nach den alten erprobten Rezepten der
Väter die nötige Quantität Zucker zusetzte, „hoffentlich kommt
mir der Geist der christlichen Lehre
dabei recht zu Hilfe!"

Damit tauchte er die Feder ins
Tintenfaß und richtete seinen Blick
zur Zimmerdecke empor, um von da
nach Möglichkeit die Intuition für
den ersten Satz zu empfangen.

„Wenn wir so durch den knir-
schenden, bläulich schimmernden
Schnee gehen," schrieb er, „wenn
wir unsere Blicke auf den in der
erfrischenden Kälte hellgliyernden
Sternenhimmel richten-, dann über-
kommt uns das tiefbeglückende Weih-
nachtsgefühl, jenes Gefühl . . .!"

„Sehr hübsch gesagt," unterbrach
ihn da eine Stimme, „wirklich sehr
hübsch gesagt! Da draußen steht
z. B. einer in der erfrischenden
Kälte, der hat insgesamt etwa
anderthalb Schuhe an den Füßen
und einen Anzug an, der mit Wind
und Wetter auf sehr vertrautem
Fuße stehen muß, denn er gestattet
beiden vollkommen freien Durch-
gang. Außerdem klappert der Mann
ein bißchen mit den Zähnen, im
übrigen aber sucht er nur nach den
paffenden Ausdrücken, um irgend-
jemand seine Weihnachtsgefühle
auseinandersehen zu können."

Pastor Kruse blickte auf und entdeckte, daß die Worte von
einem sehr melancholisch aussehenden Wesen kamen, das auf
dem Tintenfaß saß und wehmütig vor sich hinstierte.

„Wer sind Sie und was wollen Sie?" fragte Pastor Kruse
stirnrunzelnd, ohne allzusehr erstaunt zu sein, denn es gibt
bekanntlich Winternächte, in denen auch einem Mathematik-
exempel ein Gespenst als etwas Selbstverständliches erscheint
— und Mathematikexempel sind im allgenieinen nicht ro-
mantisch veranlagt.

„Ich bin der Geist der christlichen Lehre," sagte das Wesen,
„und bin auf Ihren vorhin geäußerten Wunsch hier, uni
Ihnen zu helfen." Kruse musterte die Erscheinung kritisch.

„Sie sehen nicht sehr empfehlenswert aus," sagte er.

„Kunststück," seufzte der Geist der christlichen Lehre, „be-
denken Sie bitte, was man in rund zweitausend Jahren alles
mit mir ausgestellt hat. Das Prokrustesbett ist sozusagen
Maßgarderobe gegen das, wohinein man mich so im Lauf
der Zeit gezwängt hat."

„Was ivolle» Sie damit sagen?" forschte Pastor Kruse.

„Ich will damit sagen, daß seit zwei Jahrtausenden zwei
Drittel aller Gemeinheiten und drei Viertel aller Dummheiten
in meinem Namen oder im Namen meines hochverehrten
Gründers begangen worden sind!'" Der Geist atmete auf;
man sah, daß er sich viel wohler fühlte, als er sich von der
Seele gesprochen hatte. Aber es währte nur einen Augen-
blick, dann nahm er wieder sein verkümmertes und herab-
gekommenes Aussehen an. „Bitte, wie seh' ich aus?" fuhr
er fort, „wie ein Zuchthäusler seh' ich aus! And warum?
Weil ich seit meiner Erschaffung der Sitzredakteur für das

bin, was Sie und Ihre Kollegen Ausbreitung des Christen-
tums nennen! — Na, nichts für ungut! Aber nun wollen
wir uns wieder an die Predigt machen."

Pastor Kruse war leicht verwirrt, denn man kann mit dem
Geist der christlichen Lehre beim besten Willen nicht über
Christentum streiten. Er tauchte also die Feder ein, sann
einen Augenblick nach und schrieb:

„Wenn die schönen Wahrzeichen
der christlichen Lehre, die Kirchen-
glocken durch die Lande klingen,
wenn . . ."

„Die Glocken sind ja nun aller-
dings vom Buddhismus über-
nommen, aber sonst steckt viel Sinn
in dem, was Sie da sagen."

Pastor Kruse holte tief Atem-
sah den Geist durchdringend an,
dachte wieder ein wenig nach,
tauchte seine Feder von neuem ein
und schrieb:

„Wenn im trauten Familienkreise
die Lichter des Weihnachtsbaumes
aufleuchten, wenn die bunten Kugeln
glänzen, dieGeschenktische locken..."

„Sie haben vollkommen recht!"
sagte das Gespenst, das heute schein-
bar zum Reden aufgelegt war, „der
Weihnachtsbaum ist ein Haupt-
bestandteil der christlichen Religion.
Christus sagte bekanntlich fast jeden
Abend zu seinen Jüngern: „Also
vergeht den Weihnachtsbaum nicht
und haltet fest an den bunten
Kugeln!"

Äier stand Pastor Kruse auf,
ging einmal im Zimmer herum,
setzte sich dann wieder hin, wischte
sich den Schweiß ab, nahm den Federhalter und schrieb:
„Ja, vorher schon, wenn die Geschäfte ihre Auslagen mit
freundlichem Tannengrün schmücken, wenn jeder sich darauf
freut, zu schenken und beschenkt zu werden, wenn die Kinder
mit klopfendem Äerzen und sehnsüchtigen Augen die Weih-
nachtsausstellungen bewachten —"

„Angefähr so wie die Völker des Christentums: alles be-
sehen, nichts anfaffen!" murmelte der Geist in Parenthese.

„ — dann geht," fuhr Kruse zu schreiben fort, „eine Welle
freudiger Erregung und Erwartung durch die Menschenherzen."

„Ja, wenn z. B.," spann der Geist den Gedanken weiter
aus, „wenn der kleine Otto Schulze aus der Mulackstraße,
Äinterhaus 4 Treppen, im Warenhaus vor der schönen elek-
trischen Miniaturbahn steht, mit wichtigen' Weichen, Tunneln
und Berg- und Talbahnen und seine kleine schmutzige Land
zuckt darnach —, dann liegen die Gefühlswerte, die die Weih-
nacht im Laufe der Jahrhunderte hervorgebracht hat, für den
Einsichtigen klar zu Tage."

Pastor Kruse brachte mit übernatürlicher Anstrengung ein
gleichgültiges Gesicht zustande, versuchte, nicht auf das höchst
lästige Gespenst zu achten und schrieb weiter:

„Wer vermöchte den Einfluß der christlichen Lehre zu
leugnen? Was würde wohl geschehen, wenn wir das Ereignis,
das heute vor 1928 Jahren stattfand, aus dem heuttgen Leben
streichen würden?"

„Za, natürlich," übernahni der Geist die Antwort, „das
ganze Weihnachtsgeschäft wäre beim Teufel!" — iöicr erhob
sich Pastor Kruse:

„Äerr," sagte er, „müssen Sie denn alles in den Staub

And den Menschen ein Wohlgefallen ...

Zeichnung von L o l l, a r Nein

,,Lb' mir die Strümpe paiien, bin ick längst an’t
Blutlpuckcn geworben!"

2
 
Annotationen