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Wölfflin, Heinrich
Renaissance und Barock: Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien — München, 1888

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https://doi.org/10.11588/diglit.1345#0070
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— 59 —

musste absterben, weil sie den Pulsschlag der Zeit nicht mehr
wiedergab, nicht mehr das aussprach, was die Zeit bewegte, was
als das Wesentliche empfunden wurde.

Für die erstere Auffassung ergiebt sich eine vom Zeitinhalt
vollständig unabhängige Formenentwickelung. Der Fortgang vom
Harten zum Weichen, vom Geraden zum Rundlichen ist ein Prozess
rein mechanischer Natur (man gestatte den Ausdruck): dem Künstler
erweichen sich die scharfen und eckigen Formen unter den Händen,
gleichsam von selbst. Der Stil wickelt sich ab, lebt sich aus oder
wie man immer sagen will. Das Bild vom Aufblühen und Welken
einer Pflanze stellt sich dieser Theorie vorzugsweise als leitender
Gesichtspunkt ein. So wenig die Blume ewig blühen kann, sondern
das Welken unaufhaltsam herankommt, so wenig konnte die Re-
naissance immer sich selbst gleich bleiben: sie welkt, sie verliert
ihre Form und diesen Zustand nennen wir Barock. Der Boden ist
nicht schuld, dass die Pflanze abstirbt, sie trägt ihre Lebensgesetze
in sich selbst. Und so der Stil: die Notwendigkeit des Wandels
kommt ihm nicht von aussen, sondern von innen: das Formgefühl
wickelt sich ab nach eigenen Gesetzen.

2. Was ist zu dieser Betrachtungsweise zu sagen? Die That-
sache, die sie voraussetzt, ist richtig: gegen einen zu oft wieder-
holten, gleichen Reiz stumpft sich das percipirende Organ ab,
d. h. das Miterleben des Gebotenen wird immer weniger intensiv;
die Formen verlieren ihre Eindrucksfähigkeit, weil sie nicht mehr
mitgefühlt, miterlebt werden; sie nutzen sich ab, werden aus-
druckslos.

Diese Abnahme in der Intensität des Nachfühlens kann man
wohl eine „Ermüdung des Formgefühls" l) nennen. Ob „das Schärfer-
werden des Gedächtnissbildes" an dieser Ermüdung allein Schuld
sei, wie Göller will, möchte ich bezweifeln; jedenfalls aber scheint
es verständlich, dass sie zu einer Steigerung der wirksamen Momente
nöthigt.

Was gewinnen wir aber hieraus für die Erklärung des
Barockstiles? — Wenig.

Es fehlt auf zwei Punkten. Für's Erste ist das Princip ein-
seitig. Es betrachtet den Menschen nicht nach seiner ganzen Leben-

1) Göller, Zur Aesthetik der Architectur, 1887, und Entstehung
der architectonischen Stilformen, 1888.
 
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