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Wölfflin, Heinrich
Die klassische Kunst: eine Einführung in die italienische Renaissance — München, 1899

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https://doi.org/10.11588/diglit.26435#0158
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140

Die klassische Kunst.

zunächst für die vereinfachte Erscheinung: schlichte Gewänder, stille
Gründe und ein einfacher Würfel als Thronsitz. In der kräftigeren
Bewegung, den völligeren Körpern und dem geschlossenen Umriss
geht er über Perugino hinaus. Seine Linie ist rundlich, wallend und
jeder harten Begegnung abhold. Wie wohlig fügen sich die Silhuetten
der Maria und des Stephanus zusammen! x) Altertümlich wirkt noch
die gleichmässige Füllung der Fläche, aber mit neuem Gefühl für
Masse sind die stehenden Figuren schon ganz nah an den Rand ge-
rückt und das Bild ist von den zwei seitlichen Pfeilern wirklich ein-
gerahmt, wrährend die Früheren in solchem Fall den Blick zwischen
Pfeiler und Rand noch einmal ins Freie hinauslassen.

Und nun schwillt das Altarbild zu immer mächtigeren Accorden
an und in der Figurenfügung findet Bartolommeo immer schwung-
vollere Rhythmen. Er weiss seine Scharen einem grossen, führenden
Motiv zu unterstellen, mächtige Gruppen von hell nnd dunkel wirken
gegeneinander, bei aller Fülle bleiben die Bilder weit und räumig.
Den vollkommensten Ausdruck hat diese Kunst in der »Vermählung
der Katharina« (Pitti) und in dem Karton der Schutzheiligen von Florenz
mit der Anna selbdritt (Uffizien) gefunden, beide um 1512 entstanden.

Der Raum in diesen Bildern ist geschlossen. Bartolommeo sucht
den dunkeln Grund. Die Stimmung vertrüge nicht die geöffnete, zer-
streuende Landschaft. Er verlangt die Begleitung einer schweren,
ernsten Architektur. Häufig ist eine grosse leere halbrunde Nische das
Motiv. Er mag die Wirkung dieser Form in Venedig empfunden
haben. Ihr Reichtum liegt in den Wölbungsschatten. Auf Farbigkeit
ist ganz Verzicht gethan, wie die Venezianer selbst mit dem 16. Jahr-
hundert aus dem Bunten ins Neutraltönige übergegangen sind.

Um für die Figuren eine bewegte Linie zu gewinnen, baut Barto-
lommeo vom Vordergrund aus ein paar Stufen empor zu dem zweiten
Plan. Es ist das Treppenmotiv, das, von Raffael in der Schule von
Athen im grössten Stil verwendet, auch dem vielfigurigen repräsen-
tierenden Altarbild unentbehrlich wird.

Dabei ist der Augenpunkt durchgängig tief genommen, so dass
die hinteren Figuren sinken. Es mag ungefähr der für den Beschauer
in der Kirche natürliche Augenpunkt gemeint sein. Die stark accentu-
ierende Komposition Bartolommeos zieht aus dieser Perspektive einen 1

1) Gefühllose Stecher wie Jesi haben aus willkürlicher Verschönerungssucht die Madonna
höher hinaufgeschoben, wodurch das ganze Lineament aus der Harmonie kommt. Nach dem
Stich ist auch der Holzschnitt in Woltmann-Wörmanns »Malerei« hergestellt.
 
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