Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Wölfflin, Heinrich
Gedanken zur Kunstgeschichte: Gedrucktes und Ungedrucktes — Basel, 1941

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.27251#0022
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
GEDANKEN ZUR KUNSTGESCHICHTE

mit Recht gerügt worden. Daneben ist aber auch viel bloßer Mißverstand
mituntergelaufen, so daß ich gern einen äußern Anlaß ergriff, in der Zeitschrift
«Logos» eine Revision erscheinen zu lassen (1933). Da dieser Logos nun aber
doch dem Kunsthistoriker nicht eben am Wege liegt, so ist es gerechtfertigt,
den Artikel hier noch einmal (mit einigen Retuschen) abzudrucken.

Vorangestellt wird ihm ein neuerer Aufsatz «über Formentwicklung», wo das
Problem des Zusammenhangs von äußerer und innerer Form noch etwas schär-
fer angefaßt wird und auch die Rolle der Persönlichkeit in einem scheinbar rein
natürlichen (biologischen) Ablauf deutlicher hervortritt. (In etwas anderer
Fassung sind diese Betrachtungen kürzlich auch als Nachschrift zur zweiten Auf-
lage des Heftchens «Das Erklären von Kunstwerken» veröffentlicht worden.)

Daß unsre Darlegung nur skizzenhaft und unvollständig ist und eigentlich
nach buchmäßiger Verarbeitung verlangt, brauche ich nicht zu sagen. Wohl
aber möchte ich, um Mißverständnissen vorzubeugen, ausdrücklich erklären,
daß es mir durchaus bewußt ist, daß hier das Letzte der künstlerischen Leistung
noch nicht zur Sprache gebracht ist. Erst mit Qualitätsurteilen würden wir den
Nerv der Sache berühren.

Als Intermezzo ist zwischen die zwei Aufsätze noch eine kurze Selbstverteidi-
gung eingeschoben, die erstmalig 1920 in der «Kunstchronik» erschien.

ÜBER FORMENTWICKLUNG

1. Es gibt in der Kunst eine innere Entwicklung der Form. So verdienstlich die
Bemühungen sind, den nie aussetzenden Formwandel mit den wechselnden
Bedingungen der Umwelt in Beziehung zu bringen und so gewiß der mensch-
liche Charakter eines Künstlers und die geistig-gesellschaftliche Struktur eines
Zeitalters unentbehrlich sind zur Erklärung der Physiognomie des Kunstwerks,
so darf man doch nicht übersehen, daß die Kunst, oder sagen wir besser, die
bildnerische Formphantasie nach ihren allgemeinsten Möglichkeiten auch ihr
eigenes Leben und ihre eigene Entwicklung hat. Man gibt diesen Tatbestand
ja auch unbedenklich zu, wenn man von der Entwicklung architektonischer
Stile als einer Stufengeschichte spricht: Die französische Gotik so gut wie die
italienische Renaissance haben eine Frühperiode, eine Periode der Reife und
eine Spätperiode, und so verschieden das morphologische Substrat sein mag,
mit Recht geht das allgemeine Urteil dahin, daß die verschiedenen Perioden,
frühere und spätere überall verwandtschaftliche Züge unter sich aufweisen wer-
den. Denselben psychologischen Vorgang kann man in der Entwicklung einzel-
ner Individuen finden (deutlicher bei den großen bildkräftigen Individuen als
 
Annotationen