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Wölfflin, Heinrich
Kunstgeschichtliche Grundbegriffe: das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst — München: Bruckmann, 1943

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https://doi.org/10.11588/diglit.74713#0098
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II. Fläche und Tiefe

Malerei
I. Allgemeines
Wenn man sagt, es habe eine Entwicklung vom Flächenhaften zum
Tiefenhaften stattgefunden, so sagt man damit nichts Besonderes,
denn es ist selbstverständlich, daß die Darstellungsmittel für den Ausdruck
des Körperlich-Vollen und des Räumlich-Tiefen sich erst allmählich aus-
gebildet haben. Allein in diesem Sinne soll hier auch gar nicht von den
zwei Begriffen gehandelt werden. Das Phänomen, das wir im Auge haben,
ist jenes andere: daß gerade diejenige Kunststufe, die sich in den vollen
Besitz der bildnerischen Raummittel gesetzt hat, das 16. Jahrhundert, den
flächenmäßigen Zusammenschluß der Formen als Grundsatz anerkennt,
und daß dieses Prinzip der Flächenkomposition vom 17. Jahrhundert zu-
gunsten einer ausgesprochenen Tiefenkomposition fallen gelassen wurde.
Dort ein Wille zur Fläche, der das Bild in Schichten bringt, die parallel
zum Bühnenrand stehen, hier die Neigung, dem Auge die Fläche zu ent-
ziehen, sie zu entwerten und unscheinbar zu machen, indem die Verhält-
nisse des Vor- und Rückwärts betont werden und der Beschauer zu Bin-
dungen nach der Tiefe hin gezwungen wird.
Es scheint paradox und entspricht doch vollkommen den Tatsachen:
das 16. Jahrhundert ist flächenhafter als das 15. Während die unent-
wickelte Vorstellung der Primitiven zwar im allgemeinen an die Fläche
gebunden ist, aber doch beständig Versuche macht, diesen Bann der Fläche
zu durchbrechen, sehen wir die Kunst, sobald sie erst einmal vollständig
die Verkürzung und die tiefe Bühne sich erobert hat, bewußt und konse-
quent zur Fläche als der eigentlichen Anschauungsform sich bekennen,
die im einzelnen da und dort durch Tiefenmotive aufgehoben sein kann,
aber doch als verbindliche Grundform durch das Ganze durchschlägt.
Was die ältere Kunst an Tiefenmotiven vorbringt, wirkt dort meist zu-
sammenhanglos, und die horizontale Schichtung erscheint als bloße Armut,
jetzt dagegen ist Flaches und Tiefes zu einem Element geworden, und
eben weil alles mit Verkürzung durchsetzt ist, empfinden wir das flächen-
mäßige Sich-Bescheiden als ein freiwilliges, und man gewinnt den Eindruck
eines zur größten Ruhe und Schaubarkeit vereinfachten Reichtums.
Niemand, der von den Quattrocentisten herkommt, wird den Eindruck
vergessen, den Lionardos Abendmahl gerade nach dieser Seite hin macht.
Trotzdem ja schon immer der Tisch mit der Gesellschaft der Jünger
 
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