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PSYCHOLOGISCHE UND FORMALE ANALYSE DER ARCHITEKTUR

Von zwei Seiten kann man versuchen, eine Antwort auf die Frage zu gewin-
nen: vom Subjekt aus und vom Objekt aus.

Es ist beides geschehen.

Ich erwähne zuerst die vielverbreitete These, die den Gefühlston von Formen
erklärt aus den Muskelgefühlen des Auges, das mit dem Punkte des deutlichsten
Sehens den Linien nachfolgt. Wellenlinie und Zickzack unterscheiden sich für
unser Gefühl sehr wesentlich.

Worin liegt der Unterschied?

Im einen Fall, sagt man, ist die Bewegung für das nachzeichnende Auge leich-
ter als im anderen. — «Wo das Auge sich frei bewegt, da verfolgt es seinem phy-
siologischen Organismus gemäß in vertikaler und horizontaler Richtung genau
die gerade Linie, jede schräge Richtung aber legt es in einer Bogenlinie zurück.»
(Wundt, Vorlesungen II. 80.)

Daher das Behagen an der Wellenlinie, die Unlust am Zickzack. Schönheit
der Form ist identisch mit Angemessenheit für unser Auge. - Es ist die gleiche
Anschauung, wenn man behauptet: der Zweck eines Säulenkapitells sei, das
Auge von der Vertikale sachte zur Horizontale überzuführen, oder wenn man
die Schönheit einer Berglinie darin erblickt, daß das Auge, ohne zu stolpern,
sanft an ihr niedergleiten könne.

Wenn man’s so hört, möcht’s leidlich scheinen. Allein es fehlt der Theorie die
Hauptsache: die Bestätigung durch die Erfahrung. Man frage sich doch selbst:
Wie viel von dem tatsächlichen Eindruck einer Form kann aus Muskelgefüh-
len erklärt werden ? Darf die größere oder geringere Leichtigkeit, mit der die
Bewegung des Auges ausgeführt wird, als das Wesentliche in der Mannigfaltig-
keit der Wirkungen gelten? - Die oberflächlichste psychologische Analyse muß
zeigen, wie wenig dadurch das Tatsächliche getroffen ist. Ja, man kann diesem
Moment nicht einmal eine sekundäre Stellung einräumen. Schon Lotze bemerkt
sehr richtig, indem er auf das gleichmäßige Gefallen einer Wellenlinie und
eines rechtwinkligen Mäanders hinweist, daß wir in unserm ästhetischen Urteil
die körperliche Mühe stets abziehen, daß also die Wohlgefälligkeit nicht auf der
Bequemlichkeit der Verrichtungen beruht, durch welche wir uns die Wahrneh-
mung verschaffen. (Gesch. der Ästhetik in Deutschland, S. 310 f.)

Der Fehler, der hier offenbar vorliegt, scheint daher zu rühren, daß man,
weil das Auge die körperlichen Formen wahrnimmt, die optischen Eigenschaf-
ten derselben für das Charakteristische hielt. Das Auge scheint aber nur auf die
Intensität des Lichts entschieden mit Lust oder Unlust zu reagieren, für Formen
indifferent zu sein, den Ausdruck wenigstens durchaus nicht zu bestimmen.

Wir müssen uns also nach einem anderen Prinzip umsehen. Die Vergleichung
mit der Musik soll es uns zeigen. Dort haben wir ja das gleiche Verhältnis. Das

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