Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Woermann, Karl
Die Kunst der christlichen Völker vom 16. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts — Geschichte der Kunst aller Zeiten und Völker, Band 3: Leipzig, Wien: Bibliograph. Inst., 1911

Citation link:
https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/woermann_geschichte_kunst_zeiten_voelker1911bd3/0352

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
274 Zweites Buch. Die Kunſt des 17. Jahrhunderts.

ihn feſthielt. Seine Linke ſteckt eingeklemmt im Baumſtumpf. Mit der Rechten ſucht er
vergebens den Löwen abzuwehren, der ſich, von hinten anſpringend, bereits in ihn feſtgebiſſen
hat. Der mächtige Leib des Recken krümmt ſich mit Anſpannung aller Muskeln unter der
zwiefachen Qual. Sein ſchmerzerfüllter Kopf iſt ein Seitenſtück zu dem des Laokoon (Bd. J,
S. 386ff.). Durchgeiſtigt iſt hier nichts. Aber das vergebliche Ringen gewaltiger, durch ein
herbes Geſchick zur Ohnmacht ver-
dammter körperlicher Kraft kommt
Furcht und Mitleid erweckend zum
Ausdruck.

Das andere dieſer Bildwerke
iſt das berühmte Hochrelief, das
den klaſſiſchen Augenblick darſtellt,
da Diogenes vor ſeinem Faſſe
dem mit großen Gefolge hoch zu
Roß heranſprengenden Alexander
bittet, ihm aus der Sonne zu gehen.
Rauſchendes maleriſches Leben er-
füllt die Bildfläche. Die Über-
füllung mit Nebenfiguren und der
bauſchig flatternde Mantel des
Königs mahnen wohl an die ba-
rocke Nachbarkunſt, der die Fran-
zoſen ſo wenig nachgaben. Aber
die Fülle künſtleriſcher Einzel-
motive, die Kraft der dargeſtellten
Volkstypen und die Wucht der
Wiedergabe des Vorgangs machen
das Werk doch zu einer Meiſter-
ſchöpfung hohen Ranges.

Weniger überzeugend als Pu-
gets Milon wirkt ſeine völlig barock
empfundene Marmorgruppe des
Louvre, die die befreite Andromeda
e dee gekenn 1 in Perſens Meen geg ent

ſcher noch als das Alexanderrelief
erſcheint Pugets großes Relief der Peſt in Mailand (1694) im Sitzungsſaale des Geſundheits-
rates von Marſeille. Das Muſeum dieſer Stadt aber bewahrt ſein großes Marmorrelief mit
dem Profilbildnis Ludwigs XIV., das den Eindruck der Adlerzüge des Königs beinahe in
der virtuoſen Behandlung des Spitzenhalstuches und der Allongeperücke erſtickt.

Wenn man Puget den franzöſiſchen Michelangelo genannt hat, ſo hat man ihn zu hoch
eingeſchätzt; aber gerade weil er, nur der Zeitſtrömung und ſeinem Naturell folgend, außer-
halb der akademiſchen Entwickelung der franzöſiſchen Bildnerei des 17. Jahrhunderts ſteht,
packt und feſſelt er uns wie kaum ein zweiter franzöſiſcher Meiſter ſeiner Zeit. Jedenfalls
gehört er zu den charaktervollſten Erſcheinungen der franzöſiſchen Kunſtgeſchichte.
 
Annotationen