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Woltmann, Alfred; Holbein, Hans [Ill.]
Holbein und seine Zeit (1. Band): Des Künstlers Familie, Leben und Schaffen — Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1874

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https://doi.org/10.11588/diglit.70660#0442
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DER STAHLHOF.

»Der Sterblichen Luft ift flüchtig und fchwankend, wird bewegt und ge-
trieben wie ein Wirbel im Sturm. So darf man keinen Herrlichkeiten
trauen. Wer reich ift, dem bangt vor fchmählicher Noth, er fürchtet
ftündlich, dafs des unbeftändigen Schickfals Rad fich dreht, und in Täu-
fchung geht fein Leben hin. Wer arm ift, fürchtet nichts, ihm droht kein
Verluft, fondern freudige Hoffnung erfüllt ihn, denn er denkt zu erwerben
und lernt durch Tugend Gott dienen.« — Auf keinem glänzenden
Triumphwagen, fondern auf einem elenden Leiterkarren fährt Penia, die
»Armuth«, einher, eine alte, ausgehungerte, magere Frau, wie Mander fie
nennt. Ein Strohdach bildet ihren Baldachin und das »Mifsgefchick«
hat fich als Gefährtin zu ihr auf den Sitz gefchwungen. Sie erhebt ihre
Ruthe gegen diejenigen, welche dem Wagen folgen, halbnackte und ver-
zweifelte Gehalten, deren eine der Künftler »Bettelhaftigkeit« benennt.
Statt der feurigen Roffe bilden zwei Efel, Stupiditas und Ignavia, »Dumm-
heit« und »Thatlofigkeit«, und zwei Ochfen, Negligentia und Pigritia,
»Fahrläffigkeit« und »Trägheit», das Gefpann. Aber von vier anmuthigen,
blühenden Frauengeftalten werden fie geleitet: »Mäfsigkeit«, »Fleifs«,
»Gefchäftigkeit« und »Arbeit«, diefe letzte namentlich ein fchönes, von
Frifche, Kraft und Gefundheit Trotzendes Weib. Die Zügel aber führt
»die Hoffnung«, welche vertrauensvoll gen Himmel blickt, ^houdende de
oogen zeer beweeglijk hemebwaard geßager«, fagt Mander), und hinter ihr
fitzt, von Memoria und Ufas, »Bewufstfein« und Erfahrung« freundlich
berathen, die »Betriebfamkeit«, Indußria, und vertheilt die Werkzeuge
der Arbeit, Hammer und Drefchflegel, Winkelmafs und Axt an die Armen
und Nothleidenden, welche den Wagen umdrängen. So will der Künftler
die fociale Frage durch Selbfthülfe löfen. Die gemeinfame ernfte Grund-
idee der beiden Bilder aber ift, vor dem Übermuth im Glück, wie vor
dem Verzagen im Unglück zu warnen. Reichthum und Armuth können
beide zum rechten Ziele führen, fobald die Fahrt nur wohl geleitet wird.
Dies giebt beiden das Recht einen Triumph zu feiern.
Von folchem Geift erfüllt, konnten diefe Malereien wohl einen wür-
digen und finnreichen Schmuck für den Feftfaal der berühmten Handels-
genoffenfchaft bilden. Ihr Charakter ift ein allegorifcher, die Allegorie
aber ift eine Kunftgattung, welche in der Gegenwart bei den Künftlern,
bei den Afthetikern, beim Publikum recht nachdrücklich in Verruf ge-
kommen ift. Merkwürdig, dafs andre Epochen, denen wir — was die
künftlerifche Schöpferkraft betrifft — willig den Vorrang laffen, von diefer
Bedenklichkeit und Verwerflichkeit der Allegorie auch nicht eine Ahnung
hatten! Nicht blos das Alterthum und das Mittelalter, auch die Meifter
aus der höchften Blütezeit der modernen Kunft, dem Anfang des 16.
Jahrhunderts, wufsten davon nichts. Wenn der Künftler Begriffe, die dem
Verftande angehören, fo mit der Macht feiner Phantafie erfafst, fo mit
 
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