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Erftes Kapitel.
gann das eigentliche Aegypten erft an den unteren Stufen der nubifchen Berg-
terraffen, bei den Wafferfällen von Affuan, dem Syene der Griechen, um von
hier aus dem Laufe des heiligen Stromes, deffen wunderbare Ueberfchwem-
mungen allein das faft regenlofe Land befruchten, bis zu feiner feichten Mün-
dung in’s Mittelmeer zu folgen.
seine Das Aegypten der Gefchichte ging freilich den umgekehrten Weg: von
’ den Mündungen des Nils flieg es zu den nubifchen Bergen hinan. Nur wenig
oberhalb der Theilung des Stromes in die Arme des Delta lag Memphis,
die Hauptfladt des »alten Reiches«, dem heutigen Kairo gegenüber; und die
mächtigen Pyramiden von Gizeh, die man noch heute von der Citadelle der
neu-ägyptifchen Hauptfladt dem Horizonte enttauchen fieht, find die Grabmäler
der Pharaonen, die hier vor fafl fünftaufend Jahren geherrfcht haben. Weiter
aufwärts, in Mittelägypten finden wir bei Beni-PIaffan die etwa taufend Jahre
jüngeren, reich bemalten Felfengrotten, welche Grabgemächer von alten Aegyp-
tern aus der zwölften Königs-Dynaftie enthalten. Noch weiter aufwärts aber,
im eigentlichen Oberägypten, lag die Hauptfladt, wie fchon des »mittlcrn Reiches«
feit der elften Dynaflie, fo vor allen Dingen des »neuen Reiches«, welches von
hier aus der Jahrhunderte langen Fremdherrfchaft der Hykfos über das untere
Nilthal ein Ende machte, lag das »hundertthorige« Theben, deffen mächtige
Ruinen von Tempeln, Paläften und Gräbern noch heute zu beiden Seiten des
Stromes fich ausbreiten: Denkmäler, die nun ebenfalls an dreitaufend Jahre
und darüber unter dem immerblauen Himmel diefer Zone in ihrer leuchtenden
alten Farbenpracht fich erhalten haben. Die Herrfcher der thebanifchcn
Periode waren es denn auch, welche mit Roffen und Wagen noch weiter füd-
wärts über die Grenzen des eigentlichen Aegyptens hinaus vordrangen und
im nubifchen Lande Bollwerke der Civilifation gegen die wilden fchwarzen
Horden errichteten, Monumente, wie die von Abufimbel (Ipfambul), die an
Majeftät und Pracht mit denen der ägyptifchen Haupfladt wetteifern und da-
durch die ägyptifche Kunflgefchichte zwingen, bis zu diefen unwirthlichcren
Gegenden hinanzufteigen.
Stilwandlun- Dafs man von einer ägyptifchen Kunflgefchichte als einem Wechfcl des
ägyptifchen Kunflflils im Gefolge der wechfelnden Zeitereigniffe wirklich reden kann, wird
nach verfchiedenen gelehrten Debatten, die hierüber flattgefunden haben,
heute allgemein zugeftanden werden müffen. Vor allen Dingen kann man
„ iiaalt^n die Kunft des »alten Reiches«, die ihren Höhenpunkt in der fecliften
Dynaflie gefunden, allen folgenden Perioden principiell entgegenfetzen. Die
Proportionen, unter denen zu diefer Zeit der menfchliche Körper aufgefafst
wurde, waren breitere, kräftigere, gedrungenere; vor allen Dingen war die
Zwangsjacke des Kanon noch nicht zur feilen Regel erhoben. Einige der von
Mariette aus den Gräbern des alten Memphis zu Tage geförderten plaflifchen
Werke zeigen einen individuell belebten und charakteriftifchen Realismus,
welcher allen früheren Anfichten über den durchgängigen Conventionalismus
der ägyptifchen Kunfl widerfpricht.
im Reich1 en der elften Dynaflie, mit welcher einige Forfcher ein »mittleres
Reich« beginnen laffen, werden die Proportionen fchlanker. Die Bruft bleibt
breit und mächtig; der Leib wird eingezogen; Arme und Beine find ver-
hältnifsmäfsig dünn; das Geficht erhält feine niedrige, zurücktretende Stirn,
Erftes Kapitel.
gann das eigentliche Aegypten erft an den unteren Stufen der nubifchen Berg-
terraffen, bei den Wafferfällen von Affuan, dem Syene der Griechen, um von
hier aus dem Laufe des heiligen Stromes, deffen wunderbare Ueberfchwem-
mungen allein das faft regenlofe Land befruchten, bis zu feiner feichten Mün-
dung in’s Mittelmeer zu folgen.
seine Das Aegypten der Gefchichte ging freilich den umgekehrten Weg: von
’ den Mündungen des Nils flieg es zu den nubifchen Bergen hinan. Nur wenig
oberhalb der Theilung des Stromes in die Arme des Delta lag Memphis,
die Hauptfladt des »alten Reiches«, dem heutigen Kairo gegenüber; und die
mächtigen Pyramiden von Gizeh, die man noch heute von der Citadelle der
neu-ägyptifchen Hauptfladt dem Horizonte enttauchen fieht, find die Grabmäler
der Pharaonen, die hier vor fafl fünftaufend Jahren geherrfcht haben. Weiter
aufwärts, in Mittelägypten finden wir bei Beni-PIaffan die etwa taufend Jahre
jüngeren, reich bemalten Felfengrotten, welche Grabgemächer von alten Aegyp-
tern aus der zwölften Königs-Dynaftie enthalten. Noch weiter aufwärts aber,
im eigentlichen Oberägypten, lag die Hauptfladt, wie fchon des »mittlcrn Reiches«
feit der elften Dynaflie, fo vor allen Dingen des »neuen Reiches«, welches von
hier aus der Jahrhunderte langen Fremdherrfchaft der Hykfos über das untere
Nilthal ein Ende machte, lag das »hundertthorige« Theben, deffen mächtige
Ruinen von Tempeln, Paläften und Gräbern noch heute zu beiden Seiten des
Stromes fich ausbreiten: Denkmäler, die nun ebenfalls an dreitaufend Jahre
und darüber unter dem immerblauen Himmel diefer Zone in ihrer leuchtenden
alten Farbenpracht fich erhalten haben. Die Herrfcher der thebanifchcn
Periode waren es denn auch, welche mit Roffen und Wagen noch weiter füd-
wärts über die Grenzen des eigentlichen Aegyptens hinaus vordrangen und
im nubifchen Lande Bollwerke der Civilifation gegen die wilden fchwarzen
Horden errichteten, Monumente, wie die von Abufimbel (Ipfambul), die an
Majeftät und Pracht mit denen der ägyptifchen Haupfladt wetteifern und da-
durch die ägyptifche Kunflgefchichte zwingen, bis zu diefen unwirthlichcren
Gegenden hinanzufteigen.
Stilwandlun- Dafs man von einer ägyptifchen Kunflgefchichte als einem Wechfcl des
ägyptifchen Kunflflils im Gefolge der wechfelnden Zeitereigniffe wirklich reden kann, wird
nach verfchiedenen gelehrten Debatten, die hierüber flattgefunden haben,
heute allgemein zugeftanden werden müffen. Vor allen Dingen kann man
„ iiaalt^n die Kunft des »alten Reiches«, die ihren Höhenpunkt in der fecliften
Dynaflie gefunden, allen folgenden Perioden principiell entgegenfetzen. Die
Proportionen, unter denen zu diefer Zeit der menfchliche Körper aufgefafst
wurde, waren breitere, kräftigere, gedrungenere; vor allen Dingen war die
Zwangsjacke des Kanon noch nicht zur feilen Regel erhoben. Einige der von
Mariette aus den Gräbern des alten Memphis zu Tage geförderten plaflifchen
Werke zeigen einen individuell belebten und charakteriftifchen Realismus,
welcher allen früheren Anfichten über den durchgängigen Conventionalismus
der ägyptifchen Kunfl widerfpricht.
im Reich1 en der elften Dynaflie, mit welcher einige Forfcher ein »mittleres
Reich« beginnen laffen, werden die Proportionen fchlanker. Die Bruft bleibt
breit und mächtig; der Leib wird eingezogen; Arme und Beine find ver-
hältnifsmäfsig dünn; das Geficht erhält feine niedrige, zurücktretende Stirn,