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Woermann, Karl; Woltmann, Alfred [Hrsg.]; Woermann, Karl [Hrsg.]
Geschichte der Malerei (Band 3,1) — Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1888

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https://doi.org/10.11588/diglit.48521#0015
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Vorbemerkungen,

ie in dem organifchen Leben, welches auf der Oberfläche des Erdballs Das Natur-
° gefetz des
hin- und hertreibt, herrfcht auch im geiftigen Werden und Wachfen der Verfalls.
Völker das Naturgefetz, welches die fchönfte Bliithenpracht und die höchfte
Fruchtreife an verhältnifsmäfsig kurze Zeiträume bindet. Hier wie dort folgen auf
die Epochen der höchften Anfpannung aller Kräfte Tage der Erfchlaffung und des
Verfalls. So lange die Ziele, die einer Zeit vorfchweben, noch nicht vollftändig
erreicht find, ftreben alle mit vereinten Kräften zu ihnen empor; der eine hilft
hier, der andere dort, der eine erreicht diefes Stück, der andere jenes, bis das
Ideal verwirklicht zu fein fcheint; dann aber gehen Jahrzehnte, manchmal Jahr-
hunderte darüber hin, bis fleh wieder fo viel geiftiger Zündftoff gefammelt
hat, um neue Ideale zu entflammen. Den inzwifchen geborenen Gefchlechtern,
die felbftzufriedener in ihrem Geniefsen find, als jene in ihrem Ringen, bleibt
nichts anderes übrig, als in den Bahnen der grofsen, aller Welt leuchtenden
Sonnen zu kreifen und von ihrem Feuer zu zehren.
Die Meifter der Blüthezeit des 16. Jahrhunderts, wie Dürer und Holbein,
Leonardo und Raphael, Michelangelo und Correggio, Gicrgione und Tizian, hatten
verfchiedene Seiten des gemeinfamen Zieles ins Auge gefafst und zufammen
das höchfte geleiftet, deffen die Malerei jener Epoche fähig war. Von den
Sternen zweiter Gröfse aber feffeln uns die Vorläufer und Mitarbeiter diefer
gröfsten Meifter gerade deshalb weit mehr, als ihre Nachfolger und fpäteren
Nachahmer, weil in den aufftrebenden Zeiten jeder ernfthaft ringende Künftler
ein Stück Fortfehritt in fich trug und feinen Theil zum Gelingen beifteuerte,
während die jüngeren Meifter auch bei völlig gleichem Mafse eigener Begabung
doch ohne andere Schuld, als dafs fie »Enkel« waren, verdammt wurden, den
hohen und fchönen Stil, den fie ererbt hatten, in Manier ausarten zu laßen.
Bezeichnet die Kunftgefchichte als »Stil« die befondere Geflaltung, welche Stil und
die Welt der Formen durch einen grofsen, aus feiner eigenften Ueberzeugung
heraus fchaffenden Meifter in vollkommenem Einklänge mit dem dargeftellten
Inhalte erfährt, fo verfteht fie unter »Manier« die Formenfprache, die ein Künftler
ohne fonderliche Rückficht auf ihren Inhalt, ohne innere Nothwendigkeit und
daher auch ohne überzeugende Kraft einem andern Meifter oder manchmal
auch feinem eigenen befferen Selbft entlehnt. Diefelben Modemotive werden
äufserlich, ohne Rückficht auf den geiftigen Vorgang, dem fie urfprünglich
entflammten, wiederholt. Daher die raphaelifchen Schönheitslinien ohne eigenes,
angeborenes Schönheitsgefühl; daher die michelangelesken Pofen und Muskel-
anfchwellungen ohne Anlafs zu den körperlichen und feelifchen Bewegungs-
 
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