io8 ÄUSSERER AUFBAU DER KATHEDRALE
ÄUSSERER AUFBAU DER KATHEDRALE
|jie gotische Kathedrale ist die stärkste und umfassendste
Repräsentation mittelalterlichen Empfindens. Mystik
und Scholastik, diese beiden grossen mittelalterlichen Lebens-
mächte, die im allgemeinen als unverträgliche Gegensätze
erscheinen, sind hier innig vereint, wachsen hier unmittelbar
auseinander heraus. Wie der Innenraum ganz Mystik ist,
so ist der Aussenbau ganz Scholastik. Es ist derselbe Tran-
szendentalismus der Bewegung, der sie vereint, derselbe
Transzendentalismus, der sich nur verschiedener Ausdrucks-
mittel bedient: in dem einen Falle organisch-sinnlicher, in
dem anderen Falle abstrakt-mechanischer. Die Mystik des
Innenraums ist nur eine verinnerlichte, ins Organisch-Sinn-
liche geleitete Scholastik.
Gottfried Semper in seiner klassischen Befangenheit
prägte als Erster das Wort von der ,,steinernen Scholastik“
und glaubte damit die Gotik zu diskreditieren. Aber dieses
sachlich zutreffende Urteil über die Gotik kann nur dem eine
Verurteilung bedeuten, der das grosse mittelalterliche Phä-
nomen der Scholastik aus der Enge seines modern einseitigen
Gesichtsfeldes heraus nicht zu überblicken vermag. Wir
wollen diese moderne Einseitigkeit des Urteils über die
Scholastik zu durchbrechen und statt modern relativer Wer-
tung eine positive Ausdeutung zu geben versuchen. Vor-
läufig wollen wir zusehen, wie diese scholastische Veran-
lagung des nordischen Menschen sich architektonisch äussert.
In der antiken Architektur, soweit sie sich überhaupt
mit raumkünstlerischen Problemen beschäftigte, und in allen
von ihr abhängigen Stilen, vor allem also in der romanischen
Architektur dokumentierte sich der Aussenbau als äusseres
Komplement der inneren Raumbegrenzung. Nun sahen wir,
dass im gotischen Stil die eigentlichen Raumgrenzen,
nämlich die festen Mauerwände, aufgelöst wurden und
die konstruktiven und ästhetischen Funktionen übergingen
auf die statischen Einzelkräfte des Aufbaus. Diese funda-
mentale Veränderung der Bauauffassung musste ihre natür-
liche Rückwirkung auf die Aussenbaugestaltung ausüben.
Auch hier musste die feste geschlossene Mauer verdrängt
ÄUSSERER AUFBAU DER KATHEDRALE
|jie gotische Kathedrale ist die stärkste und umfassendste
Repräsentation mittelalterlichen Empfindens. Mystik
und Scholastik, diese beiden grossen mittelalterlichen Lebens-
mächte, die im allgemeinen als unverträgliche Gegensätze
erscheinen, sind hier innig vereint, wachsen hier unmittelbar
auseinander heraus. Wie der Innenraum ganz Mystik ist,
so ist der Aussenbau ganz Scholastik. Es ist derselbe Tran-
szendentalismus der Bewegung, der sie vereint, derselbe
Transzendentalismus, der sich nur verschiedener Ausdrucks-
mittel bedient: in dem einen Falle organisch-sinnlicher, in
dem anderen Falle abstrakt-mechanischer. Die Mystik des
Innenraums ist nur eine verinnerlichte, ins Organisch-Sinn-
liche geleitete Scholastik.
Gottfried Semper in seiner klassischen Befangenheit
prägte als Erster das Wort von der ,,steinernen Scholastik“
und glaubte damit die Gotik zu diskreditieren. Aber dieses
sachlich zutreffende Urteil über die Gotik kann nur dem eine
Verurteilung bedeuten, der das grosse mittelalterliche Phä-
nomen der Scholastik aus der Enge seines modern einseitigen
Gesichtsfeldes heraus nicht zu überblicken vermag. Wir
wollen diese moderne Einseitigkeit des Urteils über die
Scholastik zu durchbrechen und statt modern relativer Wer-
tung eine positive Ausdeutung zu geben versuchen. Vor-
läufig wollen wir zusehen, wie diese scholastische Veran-
lagung des nordischen Menschen sich architektonisch äussert.
In der antiken Architektur, soweit sie sich überhaupt
mit raumkünstlerischen Problemen beschäftigte, und in allen
von ihr abhängigen Stilen, vor allem also in der romanischen
Architektur dokumentierte sich der Aussenbau als äusseres
Komplement der inneren Raumbegrenzung. Nun sahen wir,
dass im gotischen Stil die eigentlichen Raumgrenzen,
nämlich die festen Mauerwände, aufgelöst wurden und
die konstruktiven und ästhetischen Funktionen übergingen
auf die statischen Einzelkräfte des Aufbaus. Diese funda-
mentale Veränderung der Bauauffassung musste ihre natür-
liche Rückwirkung auf die Aussenbaugestaltung ausüben.
Auch hier musste die feste geschlossene Mauer verdrängt