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Worringer, Wilhelm
Formprobleme der Gotik — München: R. Piper & Co., Verlag, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.69955#0111
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DER BAUGEDANKE DER GOTIK

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Die konstruktive Befangenheit des dorischen Tempels und
die damit zusammenhängende Gedrungenheit der allge-
meinen Proportionen machen den dorischen Tempel gewiss
schwerfällig, aber sie machen auch seine unerreichte Feier-
lichkeit und majestätische Unnahbarkeit aus. Im ionischen
Stil wird alles leichter, flüssiger, lebendiger, geschmeidiger,
menschlich näher. Was er an repräsentativem Ernst ein-
büsst, gewinnt er an Heiterkeitsausdruck. Jede Zurück-
haltung gegenüber den Eigenforderungen der Materie, d. h.
den konstruktiven Gesetzen, ist geschwunden; der Stein ist
ganz versinnlicht, ganz mit organischem Leben erfüllt, und all
die Hemmungen, die die Dynamik und Grossartigkeit des
dorischen Stils ausmachen, sind gleichsam spielend über-
wunden. Den dorischen Tempel erleben wir wie ein erhabenes
Drama, den ionischen wie ein beglückendes Schauspiel frei
spielender Kräfte.

DER BAUGEDANKE DER GOTIK
T jen besten Uebergang zur Untersuchung des gotischen
Baugedankens und seines von der griechischen Tek-
tonik gänzlich verschiedenen Wesens finden wir, indem wir
uns das Verhältnis der beiden Bauweisen zu ihrem Material,
dem Stein, veranschaulichen. Alle künstlerische Architektur
fängt erst damit an, dass sie sich nicht begnügt, den Stein
als blosses Material zu irgendwelchen praktischen Zwecken
zu benützen und ihn demnach nur nach Massgabe seiner
materiellen Gesetzlichkeit zu behandeln, sondern versucht,
dieser toten materiellen Gesetzlichkeit einen Ausdruck ab-
zugewinnen, der einem bestimmten apriorischen Kunstwollen
entspricht. So sahen wir, dass die griechische Kunst diese
tote Gesetzlichkeit des Steins zu einem wundervollen Aus-
drucksorganismus verlebendigt (wie sie in der Ornamentik
die tote abstrakte Linie des Primitiven zu einer organisch
gerundeten und organisch rhythmisierten Linie verlebendigt).
Aus der starren unsinnlichen Logik der Konstruktion macht
sie ein sinnlich empfundenes und sinnlich erfassbares Spiel
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