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DER BAUGEDANKE DER KLASSIK

Was das Giebelfeld im grossen tut, das wird im kleinen
von den zwischen dem lastenden Gebälk und den tragenden
Stützen vermittelnden Baugliedern besorgt, in erster Linie
von den Säulenkapitellen. Das organisch disziplinierte Gefühl
verlangt nach einer Milderung des Zusammenstosses von Last
und Kraft, nach einer organischen Vermittlung des Mecha-
nisch-Unvermittelten, und diese Vermittlungs- und Mil-
derungstendenz übernimmt eben das Kapitell. Es nimmt
dem Zusammenstoss das Katastrophale, indem es ihn vor-
bereitet und ausklingen lässt. Es würde uns in diesem
Zusammenhang zu weit führen, die Details des griechischen
Säulen- und Architravsystems auf ihre organische Inter-
pretationskraft hin zu untersuchen. Nur auf den Unterschied
von dorischem und ionischem Stil wollen wir noch deshalb
hinweisen, weil er uns auch ornamental schon entgegengetreten
ist und uns gezeigt hat, wie das Dorische im Griechentum
die Verbindung schafft zwischen der Mittelmeerkultur und
dem Norden. Da ist es charakteristisch, dass die organische
Läuterung konstruktiver Vorgänge im dorischen Tempel
noch nicht so weit gediehen ist. Eine gewisse männliche
Schwerfälligkeit, eine gewisse männliche Scheu hielt den
dorischen Geist davor zurück, sich allzusehr aus der kon-
struktiven Gebundenheit der Architektur zu befreien. Er
verlangte noch nach einer Erhabenheit, die organisch gar
nicht ausdrückbar ist, die nur in abstrakter Sprache wirksam
wird. In diesem Hang nach einer übermenschlichen, über-
sinnlichen Pathetik verrät sich noch seine nordische Her-
kunft. „Trois ou quatre formes elementaires de la geometrie
font tous les frais,“ sagt Taine lakonisch vom dorischen
Baustil.
Diese Pathetik bringt es mit sich, dass im dorischen Stil
die lastenden Kräfte stärker zum Ausdruck kommen, als die
tragenden. Der Druck der Last ist so stark, dass die ihn
auffangenden Säulen sich erbreitem müssen; sie schwellen
nach unten hin mächtig an und leiten damit den Druck, den
sie selbst nicht bewältigen können, auf das allgemeine Bau-
fundament ab. Sie klingen also nicht in sich selbst aus, wie
die ionischen, die deutlich durch eine abschliessende Basis
vom allgemeinen Fundament getrennt sind, sondern sie
klingen gleichsam unterirdisch nach.
 
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