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DIE GEHEIME GOTIK

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fernung von der Natur sehen. In Wirklichkeit liegt aber
derselbe Unterschied vor wie zwischen dem dumpfen
Fetischismus des primitiven und der tiefsinnigen ysti
des orientalischen Menschen.

DIE GEHEIME GOTIK DER FRÜHEN NOR-
DISCHEN ORNAMENTIK
IVT achdem wir so drei Haupttypen der Menschheits-
entwicklung, d. h. drei Hauptstadien im Auseinander-
setzungsprozess von Mensch und Aussenwelt in ihren ent-
scheidenden Linien kurz skizziert haben, wollen wir uns von
diesen elementaren Orientierungspunkten aus unserem eigent-
lichen Problem, der Gotik, nähern.
Es sei gleich gesagt, dass sich der stilpsychologische
Begriff der Gotik, wie ihn unsere Untersuchung heraus-
arbeiten will, keineswegs mit der historischen Gotik deckt.
Jene engere Gotik, die der Schulbegriff fixiert, fassen wir
vielmehr nur als die Endresultate einer spezifisch nordischen
Entwicklung auf, die schon in der Hallstadt- und La-Tene-
Periode, ja in ihren letzten Wurzeln noch früher einsetzt.
Nord- und Mitteleuropa ist vornehmlich der Schauplatz
dieser Entwicklung, deren Ausgangspunkt vielleicht das ger-
manische Skandinavien ist.
Mit anderen Worten gesagt: der Stilpsychologe, dem
einmal angesichts der reifen historischen Gotik der Grund-
charakter des gotischen Formwillens aufgegangen ist, er sieht
diesen Form willen auch da gleichsam unterirdisch tätig,
wo er durch mächtigere äussere Umstände gehemmt und an
freier Entfaltung gehindert eine fremde Verkleidung an-
nimmt; er erkennt, dass dieser gotische Formwille nicht
äusserlich, aber innerlich die romanische Kunst, die Mero-
wingerkunst, die Völkerwanderungskunst, kurz den ganzen
nord- und mitteleuropäischen Kunstverlauf beherrscht.
Es ist das eigentliche Ziel unserer Untersuchung, den
Berechtigungsbeweis für diese weitere Ausdehnung des Stil-
begriffs Gotik zu erbringen. Vorläufig mag diese Behauptung,
 
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