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KUNSTWISSENSCHAFT ALS
ist diese Zusammensetzung, weil sich bei dem Ausdruck
Aesthetik gleich wieder die Vorstellung des Schönen ein-
schleicht und die Gotik mit Schönheit nichts zu tun hat.
Und es wäre nur ein Zwangsgebot unserer Wortarmut, hinter
der sich in diesem Falle allerdings auch eine sehr empfind-
liche Erkenntnisarmut verbirgt, wenn wir von einer Schönheit
der Gotik sprechen wollten. Diese angebliche Schönheit der
Gotik ist ein modernes Missverständnis. Ihre wirkliche Grösse
hat mit der uns geläufigen Kunstvorstellung, die notwendiger-
weise in dem Begriff „schön“ gipfeln muss, so wenig zu tun,
dass eine Uebernahme dieses Wortes für gotische Werte nur
Verwirrung stiften kann.
Also schütteln wir von der Gotik auch jede Verquickung
mit dem Ausdruck Aesthetik ab. Erstreben wir nur eine
stilpsychologische Interpretation des gotischen Kunstphä-
nomens, die uns den gesetzmässigen Zusammenhang zwischen
dem Empfinden der Gotik und der äusseren Erscheinungs-
form ihrer Kunst verständlich macht, so haben wir das für
die Gotik erreicht, was die Aesthetik für die Klassik er-
reicht hat.
KUNSTWISSENSCHAFT ALS MENSCHHEITS-
PSYCHOLOGIE
Tndem wir die Kunstgeschichte nichtJmehr als eine
blosse Geschichte des künstlerischeufKönnens, sondern
als eine Geschichte- des künstlerischen Wollens auf fassen,
gewinnt sie an allgemeiner weltgeschichtlicher Bedeu-
tung. Ja, ihr Gegenstand wird dadurch in eine so hohe
Betrachtungssphäre gerückt, dass er den Anschluss gewinnt
an jenes grösste Kapitel der Menschheitsgeschichte, das
die Entwicklung der religiösen und philosophischen Mensch-
heitsbildungen zum Inhalt hat und das uns die eigent-
liche Psychologie der Menschheit offenbart. Denn die Aen-
derungen des Wollens, als deren blossen Niederschlag wir
die Stilvariationen der Kunstgeschichte auffassen, können
nicht willkürlicher, zufälliger Art sein; sie müssen vielmehr
in einem gesetzmässigen Zusammenhang stehen mit den
KUNSTWISSENSCHAFT ALS
ist diese Zusammensetzung, weil sich bei dem Ausdruck
Aesthetik gleich wieder die Vorstellung des Schönen ein-
schleicht und die Gotik mit Schönheit nichts zu tun hat.
Und es wäre nur ein Zwangsgebot unserer Wortarmut, hinter
der sich in diesem Falle allerdings auch eine sehr empfind-
liche Erkenntnisarmut verbirgt, wenn wir von einer Schönheit
der Gotik sprechen wollten. Diese angebliche Schönheit der
Gotik ist ein modernes Missverständnis. Ihre wirkliche Grösse
hat mit der uns geläufigen Kunstvorstellung, die notwendiger-
weise in dem Begriff „schön“ gipfeln muss, so wenig zu tun,
dass eine Uebernahme dieses Wortes für gotische Werte nur
Verwirrung stiften kann.
Also schütteln wir von der Gotik auch jede Verquickung
mit dem Ausdruck Aesthetik ab. Erstreben wir nur eine
stilpsychologische Interpretation des gotischen Kunstphä-
nomens, die uns den gesetzmässigen Zusammenhang zwischen
dem Empfinden der Gotik und der äusseren Erscheinungs-
form ihrer Kunst verständlich macht, so haben wir das für
die Gotik erreicht, was die Aesthetik für die Klassik er-
reicht hat.
KUNSTWISSENSCHAFT ALS MENSCHHEITS-
PSYCHOLOGIE
Tndem wir die Kunstgeschichte nichtJmehr als eine
blosse Geschichte des künstlerischeufKönnens, sondern
als eine Geschichte- des künstlerischen Wollens auf fassen,
gewinnt sie an allgemeiner weltgeschichtlicher Bedeu-
tung. Ja, ihr Gegenstand wird dadurch in eine so hohe
Betrachtungssphäre gerückt, dass er den Anschluss gewinnt
an jenes grösste Kapitel der Menschheitsgeschichte, das
die Entwicklung der religiösen und philosophischen Mensch-
heitsbildungen zum Inhalt hat und das uns die eigent-
liche Psychologie der Menschheit offenbart. Denn die Aen-
derungen des Wollens, als deren blossen Niederschlag wir
die Stilvariationen der Kunstgeschichte auffassen, können
nicht willkürlicher, zufälliger Art sein; sie müssen vielmehr
in einem gesetzmässigen Zusammenhang stehen mit den