AESTHETIK UND KUNSTTHEORIE
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AESTHETIK UND KUNSTTHEORIE
j? s soll hier der Versuch gewagt werden, ein Verständnis
der Gotik auf Grund ihrer eignen — uns allerdings nur
durch hypothetisch gefärbte Konstruktionen zugänglichen —
Voraussetzungen zu erreichen. Nach dem Untergrund innerer
menschheitsgeschichtlicher Beziehungen soll geforscht wer-
den, der uns die formbildenden Energien der Gotik in der
Notwendigkeit ihres Ausdrucks begreiflich macht. Denn
jedes künstlerische Phänomen ist uns so lange verschlossen,
als wir nicht die Notwendigkeit und Gesetzmässigkeit seiner
Bildung erfasst haben.
Wir müssen also den aus menschheitsgeschichtlichen
Notwendigkeiten erwachsenen Form willen der Gotik fixieren,
jenen gotischen Formwillen, der sich am kleinsten gotischen
Gewandzipfel ebenso stark und unzweideutig dokumentiert
wie an der grossen gotischen Kathedrale.
Man darf sich darüber nicht täuschen, dass die formalen
Werte der Gotik bisher ohne psychologische Deutung ge-
blieben sind. Ja, es wurde nicht einmal der entschlossene
Versuch einer positiven Würdigung gemacht. Alle An-
läufe dazu — z. B. von Taine und seinen Jüngern ausgehend
— blieben in seelischen Zergliederungen des gotischen Men-
schen und einer Charakterisierung der allgemeinen kultur-
geschichtlichen Stimmung stecken, ohne dass der Versuch
gemacht wurde, den gesetzmässigen Zusammenhang zwischen
diesen Momenten und der äusseren Erscheinungsform der
Gotik klarzulegen. Und damit beginnt doch erst die eigent-
liche Stilpsychologie, dass die formalen Werte als präziser.
Ausdruck der inneren Werte also verständlich gemacht
werden, dass jeder Dualismus von Form und Inhalt ver-
schwindet.
Die Welt der klassischen und der in ihr verankerten
neueren Kunst hat längst eine solche Kodifizierung der Ge-
setzlichkeit ihrer Bildungen gefunden: denn was wir wissen-
schaftliche Aesthetik nennen, ist im Grunde nichts anderes als
eine solche stilpsychologische Interpretation des klassischen
Stilphänomens. Als Voraussetzung dieses klassischen Kunst-
phänomens wird nämlich jener Schönheitsbegriff angesehen,
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AESTHETIK UND KUNSTTHEORIE
j? s soll hier der Versuch gewagt werden, ein Verständnis
der Gotik auf Grund ihrer eignen — uns allerdings nur
durch hypothetisch gefärbte Konstruktionen zugänglichen —
Voraussetzungen zu erreichen. Nach dem Untergrund innerer
menschheitsgeschichtlicher Beziehungen soll geforscht wer-
den, der uns die formbildenden Energien der Gotik in der
Notwendigkeit ihres Ausdrucks begreiflich macht. Denn
jedes künstlerische Phänomen ist uns so lange verschlossen,
als wir nicht die Notwendigkeit und Gesetzmässigkeit seiner
Bildung erfasst haben.
Wir müssen also den aus menschheitsgeschichtlichen
Notwendigkeiten erwachsenen Form willen der Gotik fixieren,
jenen gotischen Formwillen, der sich am kleinsten gotischen
Gewandzipfel ebenso stark und unzweideutig dokumentiert
wie an der grossen gotischen Kathedrale.
Man darf sich darüber nicht täuschen, dass die formalen
Werte der Gotik bisher ohne psychologische Deutung ge-
blieben sind. Ja, es wurde nicht einmal der entschlossene
Versuch einer positiven Würdigung gemacht. Alle An-
läufe dazu — z. B. von Taine und seinen Jüngern ausgehend
— blieben in seelischen Zergliederungen des gotischen Men-
schen und einer Charakterisierung der allgemeinen kultur-
geschichtlichen Stimmung stecken, ohne dass der Versuch
gemacht wurde, den gesetzmässigen Zusammenhang zwischen
diesen Momenten und der äusseren Erscheinungsform der
Gotik klarzulegen. Und damit beginnt doch erst die eigent-
liche Stilpsychologie, dass die formalen Werte als präziser.
Ausdruck der inneren Werte also verständlich gemacht
werden, dass jeder Dualismus von Form und Inhalt ver-
schwindet.
Die Welt der klassischen und der in ihr verankerten
neueren Kunst hat längst eine solche Kodifizierung der Ge-
setzlichkeit ihrer Bildungen gefunden: denn was wir wissen-
schaftliche Aesthetik nennen, ist im Grunde nichts anderes als
eine solche stilpsychologische Interpretation des klassischen
Stilphänomens. Als Voraussetzung dieses klassischen Kunst-
phänomens wird nämlich jener Schönheitsbegriff angesehen,