Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
98

INNERER AUFBAU DER KATHEDRALE

INNERER AUFBAU DER KATHEDRALE
T st es nicht etwas dem von der Kirche gekämpften
,, x Kampf gegen den natürlichen Menschen Verwandtes,
wenn die Gotik den Stein zu Bildungen nötigt, in denen es
seine Schwere, seine Brüchigkeit, sein natürliches Lagerungs-
bestreben scheinbar vergessen, scheinbar ein höheres lebendiges
Wesen angenommen hat? Ist es nicht ein sehr absichtlicher
Widerspruch gegen die gemeine Erfahrung, ein Verlangen
nach wundergleichen Wirkungen, das dem Scharfsinn der
Baumeister zum Ziel setzt, alles das, was dem inneren Auf-
bau Halt gibt, für das Auge verschwinden zu machen?
Ohne Frage, diese ganze, für den ästhetischen Eindruck
entscheidende Seite der Gotik hat mit dem angeblich sie
beherrschenden Streben nach konstruktiver Wahrheit nichts
zu tun. Wer den reichlichen Tropfen Mystik, der dem Kalkül
ihrer Meister zugemischt war, nicht herauszufühlen vermag,
der wird auch das, was diese als Künstler, d. h. als echte
Söhne und legitime Sprecher ihrer Zeit, zu sagen hatten,
nicht verstehen.“
Diese Sätze Dehios stellen wir dem Kapitel über die
eigentliche Gotik voraus, weil sie den wahren Charakter
aller technischen Fortschritte der Gotik so treffend kenn-
zeichnen, weil sie uns von vornherein darauf hinweisen,
wie der ganze Aufwand an logischem Scharfsinn, den die
gotischen Konstrukteure aufbringen, im letzten Grunde nur
überlogischen Zwecken dient.
Der logischen und psychologischen Interpretation des
gotischen Systems, wie sie neben Dehio von vielen anderen
versucht worden ist, ist kaum etwas Neues hinzuzufügen.
Ueber dieses Thema ist schon so viel Geistreiches und Tief-
durchdachtes gesagt worden, dass der Gefahr des unbewussten
Plagiats kaum zu entgehen ist. Auch geht es uns bei unseren
Untersuchungen ja weniger um diesen Höhepunkt der Gotik,
als um jene heimliche Gotik, die sich in der ganzen Kette
der vorgotischen Stile schon äussert und deren Zusammen-
hang mit der engeren Gotik wir in erster Linie aufzeigen
wollten. So dürfen wir uns also kurz fassen.
 
Annotationen