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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0426
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422 BESPRECHUNGEN.

den wahren Feind ruhiger Bildung bezeichnet hatte. Und wie sollte auch jene Ab-
geschiedenheit und innere Stille gewahrt werden, die allein Hingabe und Ehrfurcht
für einen Beruf bedingen, der keine Zeit hat, Zeitzuhaben, weil er aus einer Be-
rufung zu einem eingestuften Erwerb geworden ist! Die Könige können nicht mehr
bauen und die Kärrner wollen nicht mehr Schutt fahren, und es wird die Wissen-
schaft bald wie ein klösterlicher Orden sein, dem sich nur der hingeben kann,
welcher in freiwilliger Askese alles dem Geiste wie der Armut weiht. Bedenkt man
dies alles, so versteht man das Zurückblicken, Zurückflüchten in das Gewesene,
Geschichtliche, in eine Vorzeit zu anderen Menschen und Begriffen, um das Ersehnte
zu beschwören, das Erwünschte zu erblicken. Auch gilt dies für die Wissenschaft
selbst. Die Geschichte einer Wissenschaft ist so oft das Paradies, in das die Aus-
gestoßenen zurückfliehen, um Bestätigung, Fachsprache, Methodik oder Persönlich-
keit zu finden, sich selbst zu begreifen und das Gesetz auch im Geistigen zu er-
kennen. Dies gilt vor allem für die Kunstwissenschaft, der so gern das Recht ab-
gesprochen wird, eine Wissenschaft zu sein, und die am Grenzlande aller Wissen-
schaften das weite Reich der Künste überschauen soll. Trotz wertvoller Vorarbeiten
aus den letzten Jahren ist nun doch noch viel zu leisten, bis das Buch geschrieben
werden kann, das die Geschichte der deutschen Kunstwissenschaft als eine Geistes-
geschichte darstellt. Die Zahl der Monographien, die Kenntnis der Literärgeschichte
wächst, doch fehlt noch jene höhere Ordnung, die als eine Genese die Metamor-
phose dieser geistigen Pflanze nachfühlt und sie als eine notwendige Bildung aus
Zeit und Persönlichkeit erwachsen läßt. Bemerkt man, daß jede Kunstgeschichte
zunächst Geist und Gesetz der eigenen Zeit darstellt, daß Art und Wesen des Autors
die Wahl und Ordnung des Materials, der Methode, der Sprache bedingen, daß aus
dem Kreis der Kunstwelt immer nur Segmente herausgeschnitten werden, die das
große Ganze kaum ahnen lassen und mehr der Sachkunde (Künstlergeschichte,
Kunstwerkgeschichte) als der Wesensforschung (Kunstwesen, Kunstgeschichte, Ästhe-
tik) verpflichtet sind — bedenkt man dies alles, so überkommt uns bange Ahnung
und holdes Bescheiden. Hatten sich etwa seit Vasari bis zum Ende des 18. Jahr-
hunderts alle Forschungen der europäischen Südkunst zugewendet, bis dann durch
die Bewegung der norddeutschen Romantik die Nordkunst in den Vordergrund trat
— auch verwies die Romantik entscheidend auf den Orient — waren ganze Epochen
und Stile der Vor- und Frühkunst überhaupt nicht beachtet worden, weil man nur
die Kunst entwickelter Kulturen gelten ließ, so bestätigt dies alles unsere These von
der Zuchtwahl der Wissenschaft, von der biologischen Gesetzlichkeit ihres Geistes.
Auch sehen wir, daß die Antriebe und Zwecke jener Kunstwissenschaft, patriotisch,
sozoliogisch oder kulturpsychologisch bedingt, die Fragestellung, Methode und Be-
wertung verpflichten, daß das Objektive nur langsam heranwächst, daß das Subjek-
tive und Monologische gerade bei den Besten überwiegt, und daß letzten Endes das
Kunstwerk zunächst auf seine Geschichte, seine Erscheinungswerte, erst späterhin
auf seine Bedeutungswerte und zuletzt und am wenigsten auf seine Gehaltswerte
(Ewigkeitswerte, Ästh=ethik) geprüft wird. Auch verweist uns die Geschichte der
Kunstwissenschaft gerade in ihren Höchstleistungen immer wieder auf ihre For-
scherkunde, auf die historische Kunst der Wenigen, Einzigen, die wie Künstler ihr
Werk gestalten und sich selbst, wie Winckelmann, Goethe, Burckhardt und andere,
durch ihre denkende Anschauung zu einem Kunstorgan heranbilden. Denn immer
lesen Knaben den Terenz anders als Grotius ihn las, und es bleibt das Geheimnis
der Persönlichkeit, daß es das Kunsterlebnis zu einem neuen eigenen Kunsterlebnis
um- und umgestaltet. Werden nun solche Persönlichkeiten, die uns historische
Phänomene sind, zu wandelnden und wachsenden Begriffen, so erleben wir die
 
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