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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Volkelt, Johannes: Persönliches und Sachliches aus meinen ästhetischen Arbeitserfahrungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0174
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170 JOHANNES VOLKELT.

Sammlung schärfer und dauernder zu erhalten als das Lesen eines
Buches nach dem Essen, vor dem Einschlafen, mitten in den Zer-
streuungen des Tages. Auch beim Besuch von Gemäldesammlungen
steht der ästhetische Genuß unter ungünstigen Bedingungen. Das
Hinundhereilen des Blickes von einem Bilde zum anderen, das Er-
ledigenwollen eines Saales nach dem anderen, das Zerstreutwerden
durch andere Besucher sind Einflüsse höchst störender Art. Allen
solchen äußerst kümmerlichen Formen des ästhetischen Schauens und
Genießens steht das von mir in dem »System der Ästhetik« gegebene
Bild als ein weit entferntes Ideal gegenüber.

Sodann ist an die massenhaften stofflichen Verunreinigungen der
ästhetischen Stimmung zu denken. Befriedigung der Neugier und
Wißbegier, des Bedürfnisses nach Zerstreuung, Spannung, Aufregung
und Kitzel und mannigfacher anderer Interessen und Gelüste mischt
sich in den verschiedensten Graden und Verbindungen in die ästhe-
tische Stimmung ein. Besonders die dargestellten Gegenstände sind
es, die nach verschiedenen Richtungen hin Begehren und Wollen er-
regen und die ästhetische Haltung des Bewußtseins stören und zer-
stören. Daher kommt es, daß Tonwerken gegenüber reines ästhetisches
Genießen am öftesten zu finden ist. Die Tonkunst ist die am meisten
gegenstandslose Kunst. Hier können daher widerästhetische Ein-
flüsse, die von Gegenständen ausgehen, am wenigsten entstehen.
Dieses widerästhetische Haften und Kleben an den Gegenständen ist
bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf überaus weit verbreitet.
Es gibt eine Menge geistig hochbedeutender Menschen, die einer rein
künstlerischen Stellung zu den dargestellten Gegenständen kaum fähig
sind. In vielen Fällen läßt der einseitig entwickelte Nützlichkeitssinn
des Praktikers ein rein künstlerisches Schauen und Genießen nicht
aufkommen. Andere Male ist es die wissenschaftliche und gelehrte
Art des Arbeitens, die so einseitig den Geist beherrscht, daß es ihm
unverständlich wird, was es heißt, sich ästhetisch einem Gegenstande
hingeben. Es braucht kaum hervorgehoben zu werden, daß die
Ästhetik ihr Ziel nicht darin erblicken kann, diese Trübungen und
Untergrabungen des ästhetischen Genießens zu zergliedern.

Aber auch im Vergleiche zu den durch Gewohnheit entspringen-
den Abschwächungen und Abstumpfungen faßt die Ästhetik ein Ideal
ins Auge. Man kann es schwer beklagen, aber es ist nun einmal so:
selbst das erhabenste Kunstwerk, selbst die entzückendste Landschaft,
immer und immer wieder betrachtet, lassen die Quellen unseres künst-
lerischen Fühlens lange nicht mehr so frisch und voll fließen wie bei
dem Schauen in der ersten Zeit. Man muß längere Pausen eintreten
lassen, wenn man wieder einen vollentwickelten Eindruck erhalten
 
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