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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Volkelt, Johannes: Persönliches und Sachliches aus meinen ästhetischen Arbeitserfahrungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0173

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ÄSTHETISCHE ARBEITSERFAHRUNGEN. \QQ

Gesichtspunkte reichlich strömen, in der es fein und biegsam, nach-
giebig gegenüber der Vielseitigkeit und Vielgestaltigkeit der ästhetischen
Erscheinungen zugeht, verschafft ihnen Unbehagen. Sie verstehen
nicht, daß etwas zart und zugleich scharf, fein und leise und dennoch
bestimmt, vielseitig und dennoch entschieden sein könne. Und so
wird denn auch meine Ästhetik von solchen Kritikern als schwankend,
unklar, haltlos abgelehntJ).

3.

Je mehr ich mich in die Zergliederung des künstlerischen Genießens
vertiefte, um so klarer wurde mir, daß die Ästhetik des künstlerischen
Genießens im Grunde auf ein Ideal ihr Augenmerk zu lenken habe.
Ich meine dies so: was sich in den wirklichen Vorgängen des ästhe-
tischen Anschauens, Aufnehmens, Genießens Reifstes, Reinstes, Voll-
entwickeltes findet, das sucht die Ästhetik zusammenzunehmen und
zu einem Gesamtvorgang zu vereinigen.

Gerät hiermit aber die Ästhetik des künstlerischen Genießens nicht
völlig auf den Boden des Ideals, also des Unwirklichen, derart, daß
sie nicht mehr den Anspruch erheben dürfte, seelisch Wirkliches zu
beschreiben und zu zergliedern? Steht sie dann noch auf festem
psychologischen Grunde? In der Tat, wenn man die Fülle an seeli-
schen Funktionen und an Beziehungen von solchen überblickt, die in
dem ästhetischen Anschauen und Genießen gemäß der in meinem
»System der Ästhetik« gegebenen Zergliederung in Bewegung gesetzt
sein sollen, so kann man zweifeln, ob eine derartige fein verwickelte
Leistung überhaupt im Umkreis der Fähigkeiten des menschlichen
Bewußtseins liege.

Mancherlei ist zu bedenken. Erstlich stelle man sich vor, wie
überaus oft das ästhetische Aufnehmen oberflächlicher Art ist und das
Verlangen nach stimmungsvollem Verweilen, nach stiller Versenkung
auch nicht spurweise aufkommt. Man begnügt sich mit flüchtigem
Kennenlernen, man möchte so rasch wie möglich fertig werden. Mehr
als jede andere Kunst hat hierunter die erzählende Dichtung zu leiden.
Ich glaube, daß Erzählungen, Novellen, Romane nur selten mit künst-
lerischer Sammlung gelesen werden. Das Weiterhasten von Seite zu
Seite läßt höchstens hier und da etwas von künstlerischer Wirkung
aufkommen. Etwas günstiger steht es hierin mit dem Drama. Beim
Schauen eines Bühnenvorganges ist so etwas wie das flüchtige Dar-
überhineilen beim Lesen eines Romanes naturgemäß ausgeschlossen.
Überhaupt ist der Bühnenvorgang geeignet, Aufmerksamkeit und

') Typisch hierfür ist die Besprechung, die mir Konrad Lange in den »Monats-
heften der kunstwissenschaftlichen Literatur« (1905, 5. Heft, S. 115 ff.) hat zu teil
werden lassen.
 
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