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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Hamann, Richard: Individualismus und Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0316

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XIV.

Individualismus und Ästhetik.

Von

Richard Hamann.

Unter den vielen Bedeutungen des Wortes »Individualismus« gilt
als spezifisch modern und als Errungenschaft des 19. Jahrhunderts
eine Theorie, die die Menschen nicht mehr ansieht auf ihr Gut und
Böse, ihr Nützlich oder Unnütz, sondern von dem Menschen verlangt,
daß er anders sei als die Mitmenschen, etwas Besonderes und Un-
vergleichbares, ein Individuum. Nicht mehr entscheiden über Wert
oder Unwert eines Menschen seine praktischen Beziehungen zu anderen
Menschen oder deren Gesamtheit, der Gesellschaft und politischen
Gemeinschaft, nicht mehr die besonders wichtige Stelle, die er in einem
Arbeitsverbande einnimmt, oder die spezifische Leistung für einen wert-
vollen Zweck. Wenn er nur für sich etwas ist, alle seine Züge und
Lebensäußerungen unter sich ein einheitliches Gebilde geben, ein zu-
sammenhängendes Bild, in dem alle Teile zusammenstimmen und ein
Wesen ausmachen, das gerade durch seine Beziehungslosigkeit zu
anderen, seine Unvergleichbarkeit mit anderen seine Abgeschlossen-
heit erhält, durch seine Besonderheit auffällt und sich heraushebt als
Individualität. Man schätzt den Menschen nicht nach dem, was er
wirkt, sondern was er ist. Die ethische Wertung weicht der ästhe-
tischen.

Die Analogie mit dem Kunstwerk springt ins Auge. Auch hier
die erste Forderung, ein Individuum darzustellen, etwas Einheitliches
und Abgeschlossenes. Alle Teile müssen so zusammenhängen, auf-
einander hinweisen, daß der Charakter absoluter Notwendigkeit, eines
Nichtandersseinkönnen sich aufdrängt. Man muß die Empfindung
haben, daß eine Änderung oder das Weglassen eines Teiles das Ganze
zerstören würde. Und jedes Kunstwerk muß originell sein, noch nicht
dagewesen, muß sich deutlich von allem anderen abheben als ein
neues, für sich bestehendes, in seiner Einheit und Ganzheit durch kein
anderes bedingtes Wesen. Es darf nicht als eine Abart, eine Variation
eines schon Bestehenden gelten, will es als Kunstwerk gewürdigt
 
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