Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

DOI Artikel:
Herrmann, Helene: Ibsens Alterskunst
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0510

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
XX.

Ibsens Alterskunst.

Von
Helene Herrmann.

1.

Die vier Dramen »Baumeister Solneß«, »Klein Eyolf«, »John Gabriel
Borkman«, »Wenn wir Toten erwachen« bilden eine Einheit in Ibsens
Lebenswerk. Sie sind bezeichnet durch eine Gesinnung und eine
Form, die sie gegen die Werke früherer Epochen des Dramatikers
abgrenzt. Es sind Werke der Alterskunst in dem Sinne, daß sie eine
letzte, reifste Fassung großer Lebensprobleme des Dichters geben
und daß in ihnen die beiden Grundbestandteile seiner Formveranlagung:
das lyrische und das dramatische Können sich zu einer formalen Ein-
heit verschmelzen, die er lange gesucht hatte. Diese Dichtungen
bringen keine ganz neue entscheidende Wendung innerhalb seines
seelischen Lebens, keine Inhalte, die den überraschen, der in Ibsens
Welt sich umzuschauen gelernt hat1). Und doch sind sie stets als
etwas Neues und Wichtiges in der Entwickelung unserer zeitgenössi-
schen Kunst empfunden worden.

Der Inhalt seiner Kunst schien uns immer so wichtig für unser
eigenes Leben, weil Ibsens Schicksal begründet lag im Wesen eines
ganz großen Menschen. Dieses in seiner Grundstruktur eigent-
lich unveränderliche Wesen hatte Spannweite genug, alle Inhalte,
Ideen, Interessen aufzufassen, die das Jahrhundert, dem wir entstammen,
bewegt haben. Er durchdrang sie in diesem Aufnahmeprozeß mit

') In der Ibsenliteratur wird gern auf das Wiederkehren gewisser philosophischer
und sozial-ethischer Probleme in den letzten Dramen hingewiesen, die sich durch
Ibsens ganzes Werk ziehen: das Wahrheitsproblem, die Frage der Willensfreiheit,
das Ehe- und Generationsproblem u. a. m. Denn Ibsen wird im allgemeinen viel mehr
als Verkünder von Ideen denn als ein Menschengestalter und damit ein auch seine
Natur ausprägender Künstler gewertet. So scheint es angemessen, das Verbindende
zwischen dem Gehalt der Alterskunst und den früheren Werken hier einmal in der
seinen Hauptgestalten gemeinsamen Grundveranlagung zu suchen, in dem, was
auch auf ihres Schöpfers Wesensart einen Rückschluß erlaubt. Zu unserer Betrach-
tung müssen jene Beobachtungen ergänzend hinzutreten, damit wir erkennen, wie
sehr diese Alterskunst ein großes Gedicht der Erinnerung ist.
 
Annotationen