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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Stieglitz, Olga: Die sprachlichen Hilfsmittel für Verständnis und Wiedergabe von Tonwerken, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0412
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408 OLGA STIEGLITZ.

nicht gar diese selbst — durch die Summe aller vorangegangenen Be-
wußtseinserlebnisse bestimmt. Infolgedessen kann auch jedes Nach-
empfinden nur innerhalb der gegebenen Bedingungen und in der
spezifischen Beschaffenheit stattfinden, die durch den Oesamtverlauf
der Gefühle bedingt ist. Es kann daher von einer völligen Gleichheit
der Empfindungen niemals die Rede sein, sondern stets nur von
Graden der Ähnlichkeit auf Grund angeborener Wahlverwandtschaft
oder analoger Lebensbedingungen und Erfahrungen.

Daß sich die Beziehungen zwischen den Schöpfern der Tonwerke
und denen, die sie der Welt klingend übermitteln, so eng wie mög-
lich gestalten, ist darum eine wichtige Forderung, weil die Ent-
wicklung der Musik nicht unwesentlich dadurch bestimmt wird. —
Kommt der Komponist der Neuzeit durch eine Fülle von Bezeich-
nungen und Inhaltsangaben dem entgegen, so hat der Vortragende im
Akte der Einfühlung seine Energie dahin zu verwenden, daß er alles
Gebotene wirklich apperzipiert. Es wird ihm das um so vollkommener
gelingen, je reicher und empfänglicher sein Gemüt, je vielseitiger und
vertiefter seine Geistesbildung ist. Soll ein wirklich nutzbringendes
Aneignen geistiger Werte stattfinden, so »müssen«, wie Karl Lange1)
schreibt, »dem Apperzeptionsobjekte nicht bloß starke und lebendige,
sondern auch inhaltreiche, weitverzweigte und bildsame Vorstellungs-
kreise entgegenkommen, Gedankengruppen, denen das rege Streben
nach Erweiterung und Vervollkommnung innewohnt. Dann erst
steigen im Prozesse der Wölbung2) so viel verwandte Elemente
empor, daß das Neue nicht von einem beliebigen, sondern von dem-
jenigen Vorstellungsverbande erfaßt wird, dem es hinsichtlich seines
Inhaltes am meisten entspricht.«

Auf diese Weise kann dem Künstler das fremde Werk so weit
innerer Besitz werden, daß er es, vermählt mit eigenem Denken und
eigenem Empfinden, aus seiner Individualität heraus neu zu bilden
vermag mit jener geistigen Freiheit xat' ££077^, die allein schöpferischer
Tätigkeit zukommt.

11. Schlußwort.

Am Schlüsse dieser Arbeit angelangt, scheint es mir geboten, Gang
und Ergebnis noch einmal in Kürze darzulegen.

Als Zielpunkt der ästhetischen Forschung habe ich in der Ein-
leitung (Abschn. 1) die Frage aufgestellt, was Worte oder Wortzeichen
für die musikalische Reproduktion zu leisten vermögen. Für diese

') In dem Buche »Über Apperzeption« S. 37.

2) Ausdruck, den Lange von Herbart übernommen hat.
 
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