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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 2.1907

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Schmarsow, August: Kunstwissenschaft und Völkerpsychologie, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3530#0493
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KUNSTWISSENSCHAFT UND VÖLKERPSYCHOLOGIE. 489

Führer — für eine oberflächliche äußere Betrachtung zunächst zutreffend
erscheinen; psychologisch ist diese Definition vollkommen unrichtig.«
Ob dies Verdikt wirklich überall zutrifft, fragen wir, indem wir es ge-
bührend erwägen. Auf dem Gebiete der Monumentalkunst, wo die
Umwandlung organischer Gestalten in stereometrische Körper auch
psychologisch tief begründet ist, wird jene Definition sich kaum dem
Vorwurf aussetzen, nur einer oberflächlichen Betrachtung zu entsprechen.
Und auf dem Gebiete der Zierkunst, die uns hier zunächst beschäftigt,
könnte es auch psychologische Richtigkeit haben, daß ein Ornament
nicht treues Abbild eines Lebewesens sein darf oder sein will, wie
etwa ein Werk der bildenden Kunst im Stadium der Wundtschen
Nachahmungskunst.

»Die Tierform«, heißt es weiter, »die zu einem regelmäßigen geome-
trischen Gebilde geworden ist, hat damit für die Anschauung nicht
aufgehört ein organisches Gebilde in dem Sinne zu sein, daß sie trotz
ihrer Regelmäßigkeit lebendig erscheint und sich dadurch von einem
beliebigen unorganischen Körper, z. B. von irgend einer geradlinig be-
grenzten einfachen geometrischen Figur oder von einem Kristall unter-
scheidet.« Ganz einverstanden, daß es für die Anschauung (wessen?
des betreffenden Künstlers und seiner Stammesgenossen, oder auch
für jeden heutigen Beschauer?) nicht aufhöre »lebendig« zu erscheinen,
so ist das doch nicht ganz dasselbe wie »organisch«, sondern ein
willkürlich ausgesondertes Merkmal des organisch gewachsenen Ge-
schöpfes. Und selbst wenn wir es hinnehmen, so möchten wir doch
wissen, woher die Auffassung einer starren Figur als Lebewesen nun
kommen soll, — wie es z. B. zugeht, daß ein hängendes Dreieck nun
zu hängen scheint, wie eine Fledermaus mit ausgespannten Flügeln
am Balken hängt, und nicht mehr als Weiberdreieck an seinem
Schnürchen. Dies Beispiel enthält schon zu viel Zugeständnisse; denn
vor allem darf der Name des Tieres nicht hinzukommen, weil er schon
die Vorstellung auslöst, die wir der linearen Erscheinung allein ver-
danken sollen. Wird die Sprache ausgeschaltet und die Kenntnis der
Herkunft ebenso, — wie soll ein regelmäßiges geometrisches Gebilde
oder gar ein kristallinischer Körper für die Anschauung eines Fremden
auf einmal anfangen lebendig zu erscheinen? So liegt das Problem,
wenn wir es rein herausschälen und von der Einfühlung in die Wilden
absehen.

Die Quelle, aus der die Illusion der Lebendigkeit fließt, verrät sich
noch in der sprachlichen Einkleidung des Satzes. Erstens: »Gebilde«
sind uns zunächst solche von Menschenhand, und auch beim Kristall
noch denken wir an die formende Hand der Natur, oder beim Ge-
schiebe immer an ein tätiges Wesen dahinter, statt an das Naturgesetz
 
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