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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 2.1907

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Schmarsow, August: Kunstwissenschaft und Völkerpsychologie, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3530#0494
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490 AUGUST SCHMARSOW.

oder den chemischen Vorgang zwischen Atomen. Und zweitens: »regel-
mäßig« ist eigentlich keine Bezeichnung des Objektiven, der Gesetz-
lichkeit des starren Schemas oder des Polyeders, sondern ein Aus-
druck der subjektiven Entstehung, des menschlichen Verfahrens (metrisch,
plani-, geometrisch u. s. w.), oder bei der sukzessiven Anschauung, beim
Fortschritt von den Teilen zum Ganzen. Die genetische Auffassung
macht also das tote gleichgültige Objekt lebendig. Mit dem Verfolg
des Nacheinander, wie wir es zu machen pflegen, strömt der Schein
der Beweglichkeit über. Das eigene Gefühl der Betätigung ist es, das
sich dem Linienschema mitteilt. Definiert doch mancher Mathematiker
noch, vermeintlich in strengster Objektivität, die gerade Linie als
kürzesten Weg zwischen zwei Punkten, oder als Verbindung zwischen
zwei gegebenen Orten im Raum, und sagt damit, nicht was sie ist,
sondern wie sie ihm erscheint oder wie er sie macht. Eine Linie oder
eine Figur benennen wir als eine »Zeichnung«. Die Tätigkeit appelliert
an unsere eigene Mitwirkung oder an die vorausgesetzte gleichorgani-
sierter Wesen; sie sind ein Gewordenes, und dazu gehört ein Anklang
mindestens an das Wie der Bewegung. Darauf will ich eben hinaus:
wir dürfen aus unserer psychologischen Rechnung nicht den allerersten
Hauptfaktor ausschalten, den Menschen, den die naturwissenschaftliche
Denkweise so wider die Natur ausgetrieben hat. Das Augen-, nein,
unser Augenpaar fixiert den Anfangspunkt und verfolgt den »Weg«
der Linie, verbindet den Endpunkt mit jenem, im Sehen. Aber diese
feinste Tastbewegung des paarigen Sehorgans läßt mindestens die
Resonanz der Tastregion, die Untertöne handgreiflicheren Tastens mit-
schwingen, also von der hinweisenden, richtunghaltenden Gebärde bis
zur Greifbewegung und zum Verfolg mit Griffel, Federstiel, Spazier-
stock. Da haben wir die »Zeichnung« auf dem Blatt, den Pinselzug
an der Wand, den Umriß im Sande, als Niederschlag der Körper-
bewegung des Menschen. Und wo er ein Urbild wiedergibt oder gar
eine Vorstellung versinnlichen will, ist es doch sicher nicht ein Effekt
des Bewegungsmechanismus seiner so und so gewachsenen Glied-
maßen allein, sondern zugleich einer Ausdrucksbewegung oder einer
Reihe von Zuschüssen psychischer Art, von der Triebbewegung bis
zum Kunstwollen, das wir im »Stil« erkennen. Seltsam genug, wie
man des Salus vergißt, dies Mittelglied außer acht läßt zwischen dem
menschlichen Tastorgan und dem materiellen Substrat der gegebenen
Fläche. »Stilisierung« ist also zunächst nicht mehr und nicht weniger
als die Modifikation, die sich aus der Einschiebung des Stilus, des
Griffels und der Handhabung dieses Werkzeuges durch die Finger
ergibt. Aber diese Vergriffelung ist doch keine Leistung des Griffels
allein. Das Instrument ist zugleich eine Verlängerung der Fingerspitze,
 
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