DIE TRAGÖDIE IM LICHTE DER ANTHROPOGENIE.
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lächelnd in den Tod, sondern sie hat ihren »Ölberg«, und der Schmerz,
den ihr das Sterben bereitet, deutet auf die leidenschaftliche Lebens-
begierde, die Fülle des animalischen Egoismus, der ihr zu überwinden
übrigbleibt. Und gerade diese Überwindung der egoistischen Lebens-
begierde unter einem sittlichen Antrieb ist das, was sie als tragische
Person vor dem blassen Asketen voraus hat, der, unter eine über-
irdische Idee geduckt, seinen Leib nie hat blutvoll blühen lassen und
kaum so zum Leben gekommen ist, daß er mitleiderregend sterben
könnte. Antigone wäre minder tragisch, wenn sie minder klagend stürbe.
Aber sie ist nicht wesentlich verschieden von allen tragischen Ge-
stalten: alle sind in ihrer starken Leidenschaftlichkeit latent sittliche
Menschen höchster Potenz. Alle gleichen dem Marmor darin, daß sie,
schon an sich und formlos schön, auch noch die höhere Schönheit
der geformten Gebilde in sich tragen. Der tragische Dichter läßt sie
nur aus der Formlosigkeit der Leidenschaft durch Leiden, den Meißel-
schlägen am Marmor vergleichbar, zur Form der Sittlichkeit gelangen.
— Das edle Bild schlief im edlen Gestein.
Weil nur tief-sittlich Geborene so schuldig werden können, daß
ihre Schuld sie frißt, deshalb entbehrt auch kein tragischer Charakter
schon mitten im Laufe seiner Verschuldung der Anzeichen sittlicher
Güte. Es kommt ja eben kein Tier zur Darstellung, sondern ein
Mensch, der nur auch noch Tier ist; allerdings möglichstauch noch
Tier, um möglichst Mensch werden zu können: Othello ist tragischer
als Desdemona.
3. Natürlich meinen wir nicht, daß jemals eine Tragödie geschrieben
wurde, um die von uns entwickelte Lebensanschauung daran zu ex-
emplifizieren. Die erste Lust im tragischen wie in jedem Dichter ist
die Lust am Gestalten. Aber weil seine Kunst auf ernsthafter Willens-
darstellung beruht, so ist er, behaupten wir, indem er der Wirklichkeit
seines eigenen und alles menschlichen Lebens nachging, immer not-
wendig dahin gekommen, die menschlich-sittliche Willenshaltung gegen
die animalisch-leidenschaftliche Haltlosigkeit ins Feld zu führen und
jene als das höhere Prinzip über diese als das niedere triumphieren
zu lassen. Unsere Untersuchung hat nur festgestellt, daß diese instink-
tive Entscheidung des tragischen Dichters eine Entscheidung im Sinne
der Entwickelung des Lebens ist. Dadurch aber ist es zugleich, dürfen
wir hinzufügen, eine Entscheidung zum Vorteil des Lebens, indem
wir unter dem Einfluß der Dichtung die darin getroffene Entscheidung-
unwillkürlich mitvollziehen und die Erhöhung von der stärksten ani-
malischen Hingerissenheit zur sittlichen Selbstbesinnung auf eine un-
endlich eindrückliche Weise miterleben. Wir, die Lebendigen, aber
sind das Leben. —
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lächelnd in den Tod, sondern sie hat ihren »Ölberg«, und der Schmerz,
den ihr das Sterben bereitet, deutet auf die leidenschaftliche Lebens-
begierde, die Fülle des animalischen Egoismus, der ihr zu überwinden
übrigbleibt. Und gerade diese Überwindung der egoistischen Lebens-
begierde unter einem sittlichen Antrieb ist das, was sie als tragische
Person vor dem blassen Asketen voraus hat, der, unter eine über-
irdische Idee geduckt, seinen Leib nie hat blutvoll blühen lassen und
kaum so zum Leben gekommen ist, daß er mitleiderregend sterben
könnte. Antigone wäre minder tragisch, wenn sie minder klagend stürbe.
Aber sie ist nicht wesentlich verschieden von allen tragischen Ge-
stalten: alle sind in ihrer starken Leidenschaftlichkeit latent sittliche
Menschen höchster Potenz. Alle gleichen dem Marmor darin, daß sie,
schon an sich und formlos schön, auch noch die höhere Schönheit
der geformten Gebilde in sich tragen. Der tragische Dichter läßt sie
nur aus der Formlosigkeit der Leidenschaft durch Leiden, den Meißel-
schlägen am Marmor vergleichbar, zur Form der Sittlichkeit gelangen.
— Das edle Bild schlief im edlen Gestein.
Weil nur tief-sittlich Geborene so schuldig werden können, daß
ihre Schuld sie frißt, deshalb entbehrt auch kein tragischer Charakter
schon mitten im Laufe seiner Verschuldung der Anzeichen sittlicher
Güte. Es kommt ja eben kein Tier zur Darstellung, sondern ein
Mensch, der nur auch noch Tier ist; allerdings möglichstauch noch
Tier, um möglichst Mensch werden zu können: Othello ist tragischer
als Desdemona.
3. Natürlich meinen wir nicht, daß jemals eine Tragödie geschrieben
wurde, um die von uns entwickelte Lebensanschauung daran zu ex-
emplifizieren. Die erste Lust im tragischen wie in jedem Dichter ist
die Lust am Gestalten. Aber weil seine Kunst auf ernsthafter Willens-
darstellung beruht, so ist er, behaupten wir, indem er der Wirklichkeit
seines eigenen und alles menschlichen Lebens nachging, immer not-
wendig dahin gekommen, die menschlich-sittliche Willenshaltung gegen
die animalisch-leidenschaftliche Haltlosigkeit ins Feld zu führen und
jene als das höhere Prinzip über diese als das niedere triumphieren
zu lassen. Unsere Untersuchung hat nur festgestellt, daß diese instink-
tive Entscheidung des tragischen Dichters eine Entscheidung im Sinne
der Entwickelung des Lebens ist. Dadurch aber ist es zugleich, dürfen
wir hinzufügen, eine Entscheidung zum Vorteil des Lebens, indem
wir unter dem Einfluß der Dichtung die darin getroffene Entscheidung-
unwillkürlich mitvollziehen und die Erhöhung von der stärksten ani-
malischen Hingerissenheit zur sittlichen Selbstbesinnung auf eine un-
endlich eindrückliche Weise miterleben. Wir, die Lebendigen, aber
sind das Leben. —