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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 4.1909

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Bacmeister, Ernst: Die Tragödie im Lichte der Anthropogenie
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https://doi.org/10.11588/diglit.3531#0106
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ERNST BACMEISTER.

Daraus also entspringt die immanente Erziehungskraft der Tragödie:
der Dichter macht uns vermöge seiner Phantasie der höchsten Leiden-
schaft teilhaftig, um uns zugleich, vermöge seiner Sittlichkeit, in dieser
Leidenschaft zu widerlegen. Einer bewußten Weltanschauung bedarf
er nicht, noch teilt er uns eine solche mit. Er bedarf nur einer dra-
matischen Phantasie und zu ihrer Lenkung eines durch Selbsterfahrung
und Beobachtung bestätigten sittlichen Instinktes. Dann hilft uns sein
Werk durch Lust und Leid der Teilnahme aus der Tierhaftigkeit vor-
wärts zur Menschlichkeit.
Aber scheint die Tragödie damit nicht in einem ironischen Selbst-
vernichtungsprozeß begriffen, indem sie die Leidenscljaft, von der sie
als Kunstwerk ausgeht, in die Sittlichkeit, auf die sie als Charakter-
ausdruck des Dichters hinzielt, aufzulösen strebt? — Gewiß, wie alle
echte Kunst, die mit ihrer Wirkung das Leben meint und innerlichst
bereit sein muß, darin unterzugehen, sobald das Leben selber Kunst
geworden ist. Es fragt sich nur, wann das Leben vollkommen schön,
die Menschheit vollkommen sittlich sein wird.--
Unser Gedankengang hat sich zum Kreise geschlossen. Das Tragi-
sche als ein Produkt der Menschheitsentwickelung greift, zur Tragödie
geformt, selbst helfend in diese Entwickelung ein. Die Tragödie ist
das weltgeschichtliche Dokument des Übergangs vom vorwiegend
sinnlichen zum vorv/iegend sittlichen Menschen. Nach einigen tausend
Jahren wird vielleicht die andere Anthropogenie — des sittlichen Men-
schen — geschrieben, in der sie nicht mehr nur eine resultierende,
sondern eine fundamentierende Rolle spielt. Artistischer darf nicht von
ihr gedacht, niedriger nicht für sie gehofft werden.
 
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