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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 4.1909

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Lange, Konrad: Zur Philosophie der Kunstgeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.3531#0111
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BEMERKUNGEN.

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Vorstellung ist durchaus falsch. Denn jenen Jägern der paläolithischen Zeit mußte
unter den Bedingungen ihres Geisteslebens die naturalistische Reproduktion des
gesehenen Objekts viel leichter werden als uns, die wir durch allerlei Abstrak-
tionen und Assoziationen unseres Wissens und Überlegens und durch die Verküm-
merung unserer Beobachtungsgabe sowie auch zum Teil unserer Handgeschicklich-
keit stark gefälschte Vorstellungsbilder von der Wirklichkeit haben und bei der
Reproduktion wiedergeben. Der paläolithische Künstler brauchte sich überhaupt
keine Mühe zu geben. Seine Zeichnung ergab sich von selbst in naturalistischer
Weise, weil er nichts hatte von Theorien und Ideen, was ihre Naturwahrheit hätte
fälschen können. Die paläolithische Kunst steht also gar nicht zu der übrigen
Kultur ihrer Zeit in einem Gegensätze, sondern sie entspricht vielmehr genau einer
Stufe, auf der die höhere geistige Tätigkeit noch ganz fehlt. Eine solche Stufe
muß, wenn sie überhaupt Kunstleistungen produziert, naturwahre physioplastische
Kunstwerke liefern.«
In diesen Bemerkungen ist, wie ich glaube, Wahres und Falsches gemischt.
Wahr ist ohne Zweifel, daß die äußeren Verhältnisse das künstlerische Talent dieser
Renntierjäger sehr begünstigten, insofern nichts sie von der Natur als dem Objekt
ihrer Nachahmung abzog. Unwahr ist dagegen, wenn man diese Kunststufe der
damals geringen sonstigen Kultur wegen für niederer erklärt als die der späteren
Zeit. Hören etwa diese Zeichnungen deshalb, weil sie von ungebildeten, geistig
wenig interessierten Menschen stammen, auf besser zu sein, als alles, was die
nächste Folgezeit hervorgebracht hat? Und werden die »gefälschten Vorstellungs-
bilder«, die »verzerrten, verfratzten, bizarren und phantastischen« Darstellungen der
Neolithiker und Bronzezeitmenschen, wie Verworn sie selbst nennt, dadurch auch
nur um ein Haar besser, daß sie aus einer Kulturperiode stammen, die schon den
Seelenglauben kannte? Um die künstlerische Qualität primitiver Zeichnungen zu
beurteilen, bedarf es durchaus keiner Kenntnis der religiösen Vorstellungen ihrer
Verfertiger. Die Zeichnungen liegen uns ja vor. Wir haben ja Augen sie zu sehen.
Hie Rhodas, hic salta! Und wenn wir nur das berücksichtigen, was sie uns lehren,
so können wir keinen Augenblick daran zweifeln, daß tatsächlich die früheren Werke
als Naturnachahmungen weitaus besser sind als die späteren. Und da diese Renn-
tierjäger ganz sicher, wie uns die Funde derselben Schichten zeigen, eine sehr
niedrige Kulturstufe einnahmen, so ist um die Tatsache absolut nicht herum-
zukommen, daß die bessere Kunst nicht, wie man denken sollte, mit einer
höheren, sondern vielmehr mit einer niederen Kulturstufe zusammen-
fällt. Daß es den Renntierjägern nicht so viel Mühe machte, die Natur treu dar-
zustellen wie etwa unseren heutigen Kindern, soll nicht geleugnet werden. Was
folgt aber daraus? Doch wohl nur, daß sie künstlerisch eminent begabt waren und
daß künstlerische Begabung keineswegs mit sonstiger geistiger Begabung gepaart
zu sein braucht.
Damit sage ich gewiß nichts Neues, vielmehr etwas, was jedermann auch heut-
zutage auf Schritt und Tritt beobachten kann. Wer wollte angesichts dessen, was
wir rings um uns sehen, sagen, daß künstlerisches Empfinden immer gleichzeitig mit
logischem Denken und religiösem Fühlen zur Entwickelung kommen müsse? Fehren
nicht die Tatsachen, daß künstlerisch begabte Menschen gewöhnlich wissenschaftlich
wenig interessiert, oft sogar ungebildet im landläufigen Sinne sind?
Deshalb ist es auch falsch, wenn Verworn eine Übereinstimmung der Kunst
mit der jeweiligen Kultur herstellen zu müssen glaubt in dem Sinne, daß er sagt:
weil die Kultur der paläolithischen Periode niedrig war, muß auch ihre Kunst
niedrig gewesen sein. Und weil die Menschen der späteren Zeit schon reichere
 
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