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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 4.1909

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Lange, Konrad: Zur Philosophie der Kunstgeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.3531#0110
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BEMERKUNGEN.

sei es die Konzeption der Seelenidee und die darauf beruhende dualistische Spal-
tung des menschlichen Wesens in Leib und Seele gewesen, was diese späteren
Künstler der Natur entfremdet habe. Die Idee von der menschlichen Seele habe zu
einer unabsehbar reichen Entwickelung des Vorstellungslebens den Anstoß gegeben.
Aus ihr sei unter anderem auch der Glaube an Geister, Dämonen und Götter her-
vorgegangen, sie sei überhaupt die Mutter aller religiösen Ideen. So habe sich ein
Komplex von mystischen religiösen Vorstellungen entwickelt, die bald das ganze
Leben der Menschen beherrscht hätten. Das habe auch auf die Kunst eingewirkt.
Der Einfalt und Natürlichkeit der älteren Anschauung entspreche die physioplastische
Kunst, dem Zustande des naiven Theoretisierens und der unheimlichen Phantasie-
schöpfungen die ideoplastische.
Das ist eine ganz plausible Vermutung. Leider läßt sich nur der durch-
greifende Unterschied in der geistigen Disposition der Paläolithiker und Neolithiker
anderweitig nicht nachweisen. Wir können ihn eben nur aus ihrer Kunst er-
schließen, zu deren Erklärung er ja dienen soll. Daß wir aus der paläolithischen
Zeit keine Idole und Amulette, keine heiligen Zeichen, keine Heiligtümer, Grab-
monumente u. s. w. haben, ist allerdings richtig. Aber daraus auf das gänzliche Fehlen
religiöser Vorstellungen zu schließen, geht doch wohl nicht an. Im Grunde müssen
wir zugeben, daß wir über diese Dinge so gut wie nichts wissen. Nur Analogie-
schlüsse können wir allenfalls machen. Das heißt, wir können von den noch in
der Gegenwart existierenden Naturvölkern auf die Anfänge des Menschengeschlechts
zurückschließen, was freilich nicht ganz unbedenklich ist. Verworn betont nun, daß
alle Völker, bei denen die Seelenvorstellungen und religiösen Ideen das ganze
Leben überwuchert haben, wie die Neger Afrikas, die Indianer Amerikas, die Süd-
seeinsulaner u. s. w., eine extrem ideoplastische Kunst besitzen, während diejenigen
Völker, bei denen diese Ideen ganz fehlen oder jedenfalls das Denken nicht völlig
beherrschen, wie z. B. die Buschmänner und Eskimos, im Besitze einer durchaus
physioplastischen Kunst sind. Daraus schließt Verworn: die primitive Kunst hat
umsomehr physioplastische Züge, je mehr die sinnliche Beobachtung, sie hat umso-
mehr ideoplastische Züge, je mehr das abstrahierende theoretische Vorsteliungsleben
der Völker im Vordergründe steht.
Daran ist ohne Zweifel etwas Richtiges. Es ist klar, daß ein Volk, das sich
wenig Gedanken über die jenseitigen Dinge macht, überhaupt nicht gern spekuliert
und theoretisiert, seine Aufmerksamkeit viel mehr auf das richten wird, was sich
seinen Sinnen darbietet, während ein Volk, dessen Interessen mehr im Jenseits als
im Diesseits liegen, ganz naturgemäß die Fähigkeit der sinnlichen Beobachtung
gering achten, folglich verkümmern lassen wird.
Damit haben wir schon die Frage berührt, welche dieser beiden künstlerischen
Richtungen die ästhetisch höher stehende ist. Denn das Merkwürdige bei dieser
Entwickelung ist ja eben, daß die Verkümmerung der sinnlichen Fähigkeiten gerade
in die Zeit einer reicheren Kultur fällt. Dieses Problem hat Verworn offenbar
viel zu schaffen gemacht. In der Überzeugung, daß die Qualität der Kunst immer
mit der Qualität der gleichzeitigen sonstigen Kultur übereinstimmen müsse, möchte
er das künstlerische Verdienst der Höhlenbewohner, die eine so niedrige Kultur ge-
habt hätten, sehr gering anschlagen. »Es ist ein großer Fehler, den wir machen,«
sagt er, »wenn wir aus der Schwierigkeit, die selbst heute der Durchschnittsmensch
bei dem Versuche einer naturalistischen Reproduktion gesehener Objekte empfindet,
den Schluß ziehen, daß der Naturalismus immer unbedingt eine höhere Entwicke-
lungsstufe des künstlerischen Könnens repräsentieren müßte als die verzerrte, ver-
fratzte, bizarre, phantastische Darstellungsweise der meisten Naturvölker. Diese
 
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