Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 7.1912

DOI article:
Deri, Max: Kunstpsychologische Untersuchungen, [1]
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.3592#0048
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
44

MAX DERI.

daß diese Formung »der Natur nicht entspräche«, daß sie als »unmög-
lich« abgelehnt werden müsse. Man bedenke aber, daß diese Ab-
weichungen vom Naturwirklichen noch lange nicht so »unmöglich«
zu sein brauchen wie jene, die wir bei Phantasieschöpfungen ohne
weiteres vertragen (zum Beispiel Kentaur). Da wir bei diesen Dar-
stellungen von vornherein erkennen, daß in ihnen nichts »naturalistisch«
gemeint ist, nehmen wir widerstandslos alles so hin, wie es sich die
Phantasie oder irgendeine gefühlsmäßige Absicht (zum Beispiel über-
trieben lange Beine in der gotischen Skulptur, um das sehnsüchtig
Strebende herauszubringen) am besten dienstbar findet.

Oleichwohl ist nach alledem ersichtlich, wie durch das Hinein-
arbeiten von Gefühlssymbolen in die äußere Form der Gegenstände
diese eben einen naturfernen Charakter bekommen müssen. Und hier
setzt das Recht jener »idealistischen« Theorien ein. Das große un-
naturalistische Kunstwerk entsteht durch eine gewisse Vergewaltigung
der Natur. Und diese Vergewaltigung besteht — neben dem »ord-
nenden Wie« und dem Verstärken oder Schwächen der Sinnes-
gefühle — in erster Linie im Umarbeiten der bloß sachbezeich-
nenden Formen des Objektes zu Gefühlssymbolen. —

Kehren wir nun zur weiteren Betrachtung dieser Gefühlssymbole
zurück, so bleibt noch eine Komplikation zu besprechen. Wir sind
aus unserem Leben so vielfach an das Auslegen von Linienzügen als
Gefühlssymbole gewöhnt, daß wir dazu neigen, alle auffallenden Linien-
züge, auch wenn sie nicht willkürlich hervorgebracht sind, dann
als Gefühlssymbole anzusehen und zu lesen, wenn ihre Führung
nicht »äußerlich mechanisch« , begründet scheint. So tun wir dies
mannigfach in der Natur. Die markantesten Beispiele sind wohl
jene, bei denen wir Naturgegenstände direkt derartig benennen.
Wir nennen einen Baum mit hängenden Zweigen »Trauerweide«
und empfinden ihn als Elendsbaum, auch wenn er voller Kraft und
Blüten steht, in seiner Art jubelnd vor Leben und Gesundheit. Wir
legen eben die besonders auffallende Linie der Äste dieses Baumes,
die nicht (wie etwa bei den hängenden Zweigen eines fruchtbelade-
nen Apfelbaumes) mechanisch begründet scheint, in einem Sinne
aus, der sie als willkürlich so gestaltet ansieht, und legen dann
der Haltung und Linienführung der Zweige jenes Gefühl unter, aus
dem heraus wir sie uns willkürlich entstanden denken könnten1).
Hundertfach spielt bald mehr bald minder bei unserer Auffassung des
Naturschönen dieses Unterschieben von Gefühlssymbolen eine Rolle:

') Die Analogie mit den »Haltungsgesten« und den »Ausdrucksgesten« des
menschlichen Körpers ist dabei klar zu durchschauen. Vgl. S. 50.
 
Annotationen