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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0146
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142 BESPRECHUNGEN.

aus dem unmittelbaren Lebensgefühl; er trägt keine Sorge für seine sittliche Rein-
heit, wie es Brandes behauptet; sondern diese Reinheit ist nur die Folge seiner Ge-
samtpersönlichkeit; er haßt den Schein und die Lüge; er hat ein unmittelbares Ge-
fühl für die Mitmenschen, daher ist er großmütig, daher ist er moralisch groß.
Auch von einer anderen Seite her macht Brutus dem dänischen Kritiker Ärgernis:
Brandes will auch Nietzsches Übermensch -Theorie in Shakespeares Werke hinein-
legen '), und nun soll nach ihm der Dichter zugunsten des Brutus die Gestalt des
geschichtlich anerkannt genialen Cäsar verwischt haben. Also auch der Durch-
führung dieser Theorie steht Brutus im Wege, daher muß er weggeschafft werden.
Demzufolge ist das Drama »Julius Cäsar« verfehlt. Aus Mangel an historischer
und klassischer Vorbildung konnte Shakespeare das Genie (in Nietzsches Sprache
den Übermenschen) Cäsar nicht begreifen, meint Brandes. Und das wird einem
Dichter gesagt, der aus spärlichen Chroniken seine »Historien« schuf, die noch
heute von den englischen Geschichtsschreibern, die den Geist der englischen Ge-
schichte erfassen wollen, studiert werden. »Julius Cäsar« sollte doch den Kritiker
Brandes vielmehr darüber belehren, daß entweder das Genie jede Vorbildung er-
setzt, oder daß die bekannten biographischen Daten aus Shakespeares Leben keinen
Wert haben; denn dieses Drama, das zur Quelle den Plutarch hatte, zeugt von
einer solchen Kenntnis des historischen Cäsar, wie sie die neueren Forscher der
römischen Geschichte erst erstreben. Im Vergleich mit Antonios Worten, in denen
er den Cäsar charakterisiert, was haben die begeisterten Reden Brandes' über den
römischen Diktator zu sagen? Shakespeare wußte genau, warum die Römer Cäsar
schätzten; aber dem Dichter ist es nicht um die Geschichte zu tun: er will nur das
menschliche Leben begreifen; er weiß, daß ein historisch genialer Diktator ein elender
Mensch sein kann. Schon Plutarch, den Jean Paul den Shakespeare der Geschichte,
nennt, unterscheidet den Diktator Cäsar von dem Menschen Cäsar. Nach Plutarch
erscheint Cäsar als ein Schauspieler, der seine Rolle, die Rolle des genialen Diktators
gut gespielt hat; wo er auf ihn als Menschen zu sprechen kommt, kann er nicht
umhin, die Nichtigkeit des Cäsar zu zeigen; der Ehrgeiz ist der einzige Beweg-
grund seiner großen Taten; alle seine Tugenden trägt er zur Schau — er sucht
nach dem Schein, während Brutus nach dem Sein trachtet; und auch für Plutarch
ist Brutus der tugendsame, reine Mensch, der bei der Verwaltung der Provinzen
ein Wohltäter für die Einwohner war, der sich überall als sittlicher Mensch bewährt
hat. Nach Brandes soll Brutus den Haß gegen Cäsar von seinem Onkel Cato er-
erbt haben, aber Plutarch zufolge haben dem Brutus sogar seine Feinde böse
Absichten nicht zugetraut. Plutarch aber zieht nicht die volle Konsequenz aus
dieser Charakteristik. Für ihn als Historiker waren die geschichtlichen Heldentaten
Cäsars maßgebend. Shakespeare, der (nach Goethe) »aufgeschlagene, ungeheuere
Bücher des Schicksals« gibt, trat mit rein menschlichem Interesse an Cäsar und
Brutus heran: hinter den großen Taten suchte er den Menschen, und als er zwi-
schen Cäsar und Brutus zu wählen hatte, wählte er den Brutus, den »schlichten
großen Mann« und machte ihn zum Helden seines Dramas.

»Coriolanus« dagegen genießt die volle Anerkennung von seiten Brandes'; denn
dieses Stück läßt sich scheinbar in die Übermensch-Theorie hineinbringen. Hier
findet Brandes die antidemokratische Gesinnung Shakespeares und dessen Verherr-
lichung der Helden ausgedrückt; Shakespeare soll hier die Menschheit in Pöbel
und Helden, die durch ihre Existenz das Leben rechtfertigen, eingeteilt haben.

') Brandes führt allmählich Shakespeare durch Hamlet, Timon von Athen,
Coriolanus zu Prospero, dem Übermenschen.
 
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