BESPRECHUNGEN. 141
ganzen Tragödie ausgedrückt. Hamlet mußte seine Wahrheit, daß man eine so
große Beleidigung, wie den schnöden Mord des Vaters, nicht dulden soll, zum
Lebensbedürfnis machen; dazu hatte er die aus Büchern herausgelesenen Wahrheiten
wegzulöschen, um überhaupt leben zu lernen und dadurch seine Lebensaufgabe mit
der Gesamtpersönlichkeit zu erfassen. Dieser Zweck rechtfertigt alle seine Schmerzen;
denn sein Leid war sein geistiges Wachstum. Nur ein Menschenkenner, wie Shake-
speare, konnte in ein so kompliziertes und verworrenes Leben, wie Hamlets, Licht
bringen. — Sehen wir jetzt, ob der Pessimismus nicht etwas war, was Hamlet in
Shakespeares Sinn zu überwinden hatte, und ob der modern empfindende Brandes
berechtigt ist, diesen Pessimismus als die Weltanschauung des großen Dichters
anzugeben.
Den Gegensatz zu Hamlet bildet Brutus in »Julius Cäsar«. Diese beiden
Dramen, die ungefähr um dieselbe Zeit entstanden sind, verhalten sich zu einander
wie Frage und Antwort: Wie sollte Hamlet leben? Wie Brutus, von dem Antonius
(mit Shakespeare) sagte: »Dies war ein Mann«. Das ist das höchste Lob, das
nach Shakespeare einem Menschen zuteil werden kann. Brutus hatte ein starkes
unmittelbares Lebensgefühl; er ging immer vom Leben aus, und die Bücher benutzte
er nur, um in ihnen eine Erklärung für die aus dem Leben erwachsenden Fragen
zu finden, während Hamlet nach der Bücherweisheit lebte und das ganze Leben
nach allgemeinen Begriffen ordnete. Daher ist des Brutus Betragen gegen die Mit-
menschen sanft, taktvoll und hilfreich; Hamlet aber hat weder für sich noch für
die Mitmenschen ein unmittelbares Gefühl; man vergleiche etwa Hamlets Beziehung
zu Ophelia und Brutus' Beziehung zu Porzia. Hamlet sah überall nur das Allge-
meine, das Tote, den kahlen Schädel hinter der Schönheit; Brutus konnte sich in
die individuelle Seele hineinleben, den individuellen Menschen schätzen, und daher
das wechselseitige verständnisvolle Zusammenleben zwischen Brutus und Porzia
auf der einen Seite und der Wahnsinn Ophelias auf der anderen. Und wie ganz
anders, als Hamlet, stellt sich Brutus zu seiner Lebensaufgabe. Als echter römischer
Patrizier, der seine Abstammung auf den alten freiheitsliebenden Brutus zurückführt,
kann er sich das Leben ohne Freiheit nicht denken. Wenn die römische Freiheit von
Julius Cäsar, seinem bestem Freunde, bedroht wird, entwickelt sich ein innerer
Kampf in ihm; aber der Kampf wird bald ausgefochten: keine Tyrannei darf ge-
duldet werden, daher muß Cäsar, als der Träger des tyrannischen Geistes, sterben.
Könnte man dem tyrannischen Geiste beikommen, ohne Cäsar anzugreifen, — das
wäre das höchste Glück für Brutus; aber dem ist nicht so, daher tötet Brutus den
Cäsar und trägt alle Folgen dieser tragischen Handlung: er verliert seine Frau,
seinen besten Freund Cäsar, und, da er das wetterwendische römische Volk, das
seine alte Freiheit schon längst vergessen hat und das Joch gern annehmen will,
erkennt, tötet er sich, um diesem Volke nicht in die Hände zu fallen: »Nicht halb
so gern bracht' ich dich, o Cäsar, um, als mich«, ruft Brutus aus und stürzt sich
in sein Schwert. Brandes macht den Brutus zunichte, denn er paßt nicht in die
pessimistische Weltanschauung, die der dänische Kritiker Shakespare zuschreibt;
im Gegenteil, er wiederlegt sie ja ganz und gar. Dieser Held erscheint bei
Shakespeare, wie es auch Brandes einsieht, als ein schlichter und großer Mann,
also gewissermaßen als Ideal des Menschen. Statt sich zu fragen: wodurch zog
dieser edle und große Mensch Shakespeare an, um ein näheres Verständnis des Dichters
zu gewinnen, verkennt Brandes den Brutus vollständig. Um an der in Shakespeares
Werke hineininterpretierten pessimistischen Weltanschauung festhalten zu können,
erklärt Brandes den »Julius Cäsar« für verfehlt: denn Brutus ergeht sich nicht in
Reflexionen und allgemeinen begrifflichen Auseinandersetzungen; er lebt und handelt
ganzen Tragödie ausgedrückt. Hamlet mußte seine Wahrheit, daß man eine so
große Beleidigung, wie den schnöden Mord des Vaters, nicht dulden soll, zum
Lebensbedürfnis machen; dazu hatte er die aus Büchern herausgelesenen Wahrheiten
wegzulöschen, um überhaupt leben zu lernen und dadurch seine Lebensaufgabe mit
der Gesamtpersönlichkeit zu erfassen. Dieser Zweck rechtfertigt alle seine Schmerzen;
denn sein Leid war sein geistiges Wachstum. Nur ein Menschenkenner, wie Shake-
speare, konnte in ein so kompliziertes und verworrenes Leben, wie Hamlets, Licht
bringen. — Sehen wir jetzt, ob der Pessimismus nicht etwas war, was Hamlet in
Shakespeares Sinn zu überwinden hatte, und ob der modern empfindende Brandes
berechtigt ist, diesen Pessimismus als die Weltanschauung des großen Dichters
anzugeben.
Den Gegensatz zu Hamlet bildet Brutus in »Julius Cäsar«. Diese beiden
Dramen, die ungefähr um dieselbe Zeit entstanden sind, verhalten sich zu einander
wie Frage und Antwort: Wie sollte Hamlet leben? Wie Brutus, von dem Antonius
(mit Shakespeare) sagte: »Dies war ein Mann«. Das ist das höchste Lob, das
nach Shakespeare einem Menschen zuteil werden kann. Brutus hatte ein starkes
unmittelbares Lebensgefühl; er ging immer vom Leben aus, und die Bücher benutzte
er nur, um in ihnen eine Erklärung für die aus dem Leben erwachsenden Fragen
zu finden, während Hamlet nach der Bücherweisheit lebte und das ganze Leben
nach allgemeinen Begriffen ordnete. Daher ist des Brutus Betragen gegen die Mit-
menschen sanft, taktvoll und hilfreich; Hamlet aber hat weder für sich noch für
die Mitmenschen ein unmittelbares Gefühl; man vergleiche etwa Hamlets Beziehung
zu Ophelia und Brutus' Beziehung zu Porzia. Hamlet sah überall nur das Allge-
meine, das Tote, den kahlen Schädel hinter der Schönheit; Brutus konnte sich in
die individuelle Seele hineinleben, den individuellen Menschen schätzen, und daher
das wechselseitige verständnisvolle Zusammenleben zwischen Brutus und Porzia
auf der einen Seite und der Wahnsinn Ophelias auf der anderen. Und wie ganz
anders, als Hamlet, stellt sich Brutus zu seiner Lebensaufgabe. Als echter römischer
Patrizier, der seine Abstammung auf den alten freiheitsliebenden Brutus zurückführt,
kann er sich das Leben ohne Freiheit nicht denken. Wenn die römische Freiheit von
Julius Cäsar, seinem bestem Freunde, bedroht wird, entwickelt sich ein innerer
Kampf in ihm; aber der Kampf wird bald ausgefochten: keine Tyrannei darf ge-
duldet werden, daher muß Cäsar, als der Träger des tyrannischen Geistes, sterben.
Könnte man dem tyrannischen Geiste beikommen, ohne Cäsar anzugreifen, — das
wäre das höchste Glück für Brutus; aber dem ist nicht so, daher tötet Brutus den
Cäsar und trägt alle Folgen dieser tragischen Handlung: er verliert seine Frau,
seinen besten Freund Cäsar, und, da er das wetterwendische römische Volk, das
seine alte Freiheit schon längst vergessen hat und das Joch gern annehmen will,
erkennt, tötet er sich, um diesem Volke nicht in die Hände zu fallen: »Nicht halb
so gern bracht' ich dich, o Cäsar, um, als mich«, ruft Brutus aus und stürzt sich
in sein Schwert. Brandes macht den Brutus zunichte, denn er paßt nicht in die
pessimistische Weltanschauung, die der dänische Kritiker Shakespare zuschreibt;
im Gegenteil, er wiederlegt sie ja ganz und gar. Dieser Held erscheint bei
Shakespeare, wie es auch Brandes einsieht, als ein schlichter und großer Mann,
also gewissermaßen als Ideal des Menschen. Statt sich zu fragen: wodurch zog
dieser edle und große Mensch Shakespeare an, um ein näheres Verständnis des Dichters
zu gewinnen, verkennt Brandes den Brutus vollständig. Um an der in Shakespeares
Werke hineininterpretierten pessimistischen Weltanschauung festhalten zu können,
erklärt Brandes den »Julius Cäsar« für verfehlt: denn Brutus ergeht sich nicht in
Reflexionen und allgemeinen begrifflichen Auseinandersetzungen; er lebt und handelt