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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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Tenner, Julius: Über Versmelodie, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0357
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VII.

Über Versmelodie.

Von

Julius Tenner.

4.

Für Wesen und Charakter eines tonmusikalischen Stückes ist die
Tonhöhe das maßgebende und wichtigste Element, denn auf ihr
ruht die Erzeugung der Melodie, bei deren Aufbau die anderen drei
Elemente: Stärke, Dauer und Klangfarbe eine ganz nebensächliche
Rolle spielen. Wenn nur die vom Komponisten im Notenbilde vor-
gezeichnete Intervallfolge die gleiche bleibt, dann empfängt der
Zuhörer stets den Eindruck derselben Melodie und erkennt sie wieder,
•nag sie mit größerer oder geringerer Kraft, im raschen oder langsamen
Tempo, in den Klangfarben der menschlichen Stimme oder eines be-
liebigen künstlichen Musikinstrumentes wiedererzeugt werden. Es
handelt sich dabei keineswegs um die absolute Tonhöhenbewegung,
um die höhere oder niedere Tonart, sondern um relative Tonhöhen,
also um die Intervallfolge, denn wir erkennen sofort die gleiche Me-
lodie wieder, mag sie von einem Baß oder Tenor, von einem Alt
oder Sopran gesungen oder in einer beliebigen Tonart vertont sein.

Ganz anders liegt die Sache in der Sprachmusik. Die führende,
für Wesen und Charakter eines sprachmusikalischen Stückes einzig
maßgebende Rolle fällt hier der Klangfarbe zu, während die Ton-
höhe die gleiche nebensächliche Aufgabe hier zu erfüllen hat, wie die
Klangfarbe in tonmusikalischen Gebilden. Ich möchte dies zunächst
an einem dem täglichen Leben entlehnten anekdotischen Erlebnis er-
läutern.

Müller und Mayer geraten an ihrem Wirtshausstammtisch in Streit,
der sich derart zuspitzt, daß Müller den Mayer einen unehrenhaften
Menschen nennt. Mayer klagt. Vor Gericht kommt ein Vergleich zu-
stande, demzufolge Müller sich verpflichtet, am nächsten Abend in
Gegenwart aller Stammtischgenossen laut die Erklärung abzugeben:
»Mayer ist ein ehrenwerter Mann.* Als nun Müller vor die ver-
sammelten und auf den demütigenden Akt der Ehrenerklärung ge-
spannten Genossen tritt, sieht er zuerst Mayer höhnisch über die

Zeitschr. f. Ästhetik u. alJg. Kunstwissenschaft. VIII. 23
 
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