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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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Tenner, Julius: Über Versmelodie, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0251
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VI.

Über Versmelodie.

Von

Julius Tenner.

1.

Es ist ein Verdienst der Leipziger Sieversschule und ihres Meisters,
ein in wissenschaftlichen Kreisen überaus verbreitetes Vorurteil, wo-
nach das Sprachklanggebilde eines Gedichtes, als bloße sinnliche Hülle
eines seinem Wesen nach geistigen Inhaltes, keiner näheren Erforschung
bedarf, gründlich widerlegt zu haben. Jener von der philologischen
und ästhetischen Wissenschaft langezeit festgehaltene Standpunkt ist
schon deshalb unhaltbar, weil er gerade solche Elemente ignoriert,
dank welchen die sinnliche Erkenntnis eines Kunstwerkes sich auf die
leichteste, feinste und zuverlässigste Weise vollzieht. Das Problem
»Rhythmik« und »Melodik« des Sprechverses, in steter Wechselwirkung
und gegenseitiger Verbindung, bildet seit der Initiative Sievers' im
Jahre 1894') den Gegenstand unausgesetzter weiterer Forschungen der
modernen metrischen Wissenschaft. Am schwierigsten gestaltete sich
die Lösung des Problems der Versmelodie, das gleichfalls zuerst von
Sievers aufgerollt wurde2).

Die von ihm diesbezüglich aufgeworfenen Fragen stellten Metriker
und Philologen, Phonetiker und Psychologen vor ganz neue Aufgaben.
Sievers hatte wertvolle allgemeine Winke und Fingerzeige über Ton-
lage und Tonbewegung, über die Faktoren der Versmelodie, über
Intervallgröße, sowie fallenden und steigenden Tonschritt des ge-
sprochenen Wortes gegeben. Es galt nun das Besondere zu ermitteln,
absolute Verhältnisse festzustellen, konkrete Beispiele zu analysieren,
um so allmählich die Bausteine zu einer allgemeinen Verslehre im
Sinne ihres von Sievers erweiterten Gebietes, zu einer »Rhythmik« so-
wohl als »Melodik« des Sprechverses zusammenzutragen.

J) »Zur Rhythmik und Melodik des nhd. Sprechverses«. Verhandl. d. 42. philolog.
Vers. 1894, S. 370—382.

2) »Über Sprachmelodisches in der deutschen Dichtung«. — Rektoratsrede, ge-
halten am 31. Okt. 1901, abgedruckt in Ostwalds »Annalen zur Naturphilosophie«,
Band I.
 
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