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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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Tenner, Julius: Über Versmelodie, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0252
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248 JULIUS TENNER.

Als erster erschien ein hervorragender Sieversschüler, Dr. Franz
Saran, mit einer der Germanistischen Abteilung der 47. Versammlung
deutscher Philologen und Schulmänner in Halle im Jahre 1903 dar-
gebrachten Festgabe: »Rhythmik und Melodik der ZueignungOoethes«,
in der der Verfasser die »Melodie« dieses Gedichtes, das ist die Ton-
höhenbewegung, nach eigener, individueller Vortragsweise festzulegen
sucht. Diese Melodie schwebt zumeist bloß im Umfang eines musi-
kalischen Ganztons auf und nieder, der jedoch, um die kleinen Inter-
valle notieren zu können, nicht in halbe, sondern in Neunteltöne ge-
teilt wird. Saran bekennt selbst die Unzulänglichkeit seiner bloß
nach freiem Gehör gemachten Selbstbeobachtungen persönlicher
Melodisierung und konstatiert den Mangel einer Skala, beziehungs-
weise Tonika, auf welche die Intervallfolge bezogen und an der sie
gemessen werden könnte. Er meint, daß man bei dieser Arbeit für
die Folge mechanischer Hilfsmittel zur mathematisch genauen Be-
stimmung der Intervalle nicht werde entraten können, und glaubt,
daß, sobald erst ein reiches Material von Aufzeichnungen einzelner
Gedichtsmelodien vorhanden sein wird, sich dann auch an der Hand
derselben eine Theorie der Versmelodik aufbauen lassen würde1).

Neben der einfachen Beobachtung der menschlichen Stimme mit
dem unbewaffneten Ohre versuchte man auf mannigfache Weise und
mittels verschiedener Methoden, durch Resonatoren, manometrische
Flammen, Interferenzapparate, Phonographplatten und eigens kon-
struierte überaus sinnreiche physikalische, akustische und optische
Meß- und Registrierapparate (unter Verwendung der Photographie
und des Röntgenverfahrens), die menschlichen Sprachlaute, die Schall-
formen der lebendigen Rede zu analysieren. Diese zahlreichen Be-
mühungen der Experimentalphonetik und Experimentalpsychologie
führten zu graphischen Aufzeichnungen der Sprachklänge. Es ge-
schah dies bei den phonographischen Methoden unter anderm dadurch,
daß ein Fühlhebel, dessen kurzen Arm man in die Glyphen einer
Phonographenplatte mit der Aufnahme eines mündlichen Vortrages
gleiten ließ, durch seinen längeren Arm einer gleichmäßig fort-
bewegten berußten Glasplatte das vergrößerte Profil der Vertiefungen
einzeichnete (Versuche Scriptures), oder es wurde die Breite der in
das Wachs eingegrabenen Glyphen gemessen und aus der Breite die
Tiefe berechnet (Verfahren Boekes). Diese phonographischen Metho-

') Auch die 1907 erschienene »seinem Lehrer Eduard Sievers« gewidmete »Deut-
sche Verslehre« von Saran, die zum ersten Male eine zusammenhängende Darstel-
lung, einen systematischen Aufbau und geschlossene Gedankenentwicklung einer
Ästhetik der künstlerischen Klangformen der gebundenen Rede bringt, enthält Ana-
lysen nach der gleichen Methode.
 
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