BESPRECHUNGEN. 437
Stelle der stetigen, vom Menschen strömenden Leidenschaft den Orgiasmus losge-
rissener Affekte, eine Isolierung von Shakespeares Darstellungen der Verwirrung
und des Wahnsinns; Maler Müller: das Landschaftliche aus dem neuen, gar nicht
mehr rokokohaften Naturgefühl (dieser Abschnitt ist besonders reich an feinen
Einzelbeobachtungen); Heinse: die heidnische Sinnlichkeit. Bemerkenswert auch,
trotz der offensichtlichen Abneigung gegen den Plebejer in Bürger, die Charakte-
ristik seiner Macbethübersetzung.
In den Abschnitten, die Schillers rationalistisch-moralische Einengung des
Shakespeareschen Kosmos betrachten, sein Drama und die Oeberde seiner Sprache
ergebnisvoll mit Shakespeare vergleichen '), finde ich geradezu erschöpfend, was
über Shakespeares Verhältnis zur Moral gesagt ist (S. 293): »Nicht als ob es Shake-
speare an Sittlichkeit überhaupt im weiteren Sinne, d. h. an Wertung der Wirk-
lichkeit gefehlt hätte: aber er nahm die Maßstäbe dafür aus der Wirklichkeit selber,
und sie waren mehr dynamischer Natur als eigentlich moralischer. Shakespeare
sah im Untergang keinen Richterspruch. Auch kannte er kein Gut und Böse für
alle Fälle. Seine Frevler stürzen nicht, weil sie gegen jenes, ein für alle Mal über
ihnen aufgehängte Gut und Böse sich vergangen, das Sittengesetz verletzt und
Strafe verdient, sondern weil sie, jeder in jedem Falle anders, eine größere Macht,
d. h. eine stärkere Wirklichkeit gegen sich aufgerufen haben.
Diese stärkere Wirklichkeit kann sich zufällig verkörpern in dem unter den
Menschen gültigen, daher mächtigen Sittengesetz, wie es durch Staat oder Gesell-
schaft verteidigt wird. Die ,MoraI' ist für Shakespeare eine der Wirklichkeiten der
Welt, wie andere auch, und nicht immer siegreich.. .« Man kann nicht besser das
innere, philosophisch-künstlerische Gesetz des Shakespearedramas erkennen, die
tiefe, nur dem Leben verbundene Gerechtigkeit und was auf ihr beruht: daß in
seinem Drama immer aufs neue das Leben gewogen wird und immer neu im Gleich-
gewicht zu schweben scheint. —
Endlich sind die Seiten über die Romantik bedeutsam, wieder durch die ganz
kernhafte Erfassung des Verhältnisses. Wieder stehen nicht einzelne Begriffe und
Definitionen im Mittelpunkt, sondern der Grundtrieb der Romantik, die Bewegt-
heit, die Schau des Lebens als schwingender Bewegung, und von da aus dann die
Erklärung all ihrer Einzeltriebe, Abneigungen und Vorlieben. Daher dann die neue,
m der Praxis des Romantikers wirksame Vision Shakespeares, nicht mehr als Welt-
schöpfer, als Menschengestalter, sondern vor allem als Dichter des Alllebens, als
sprachlichen Schöpfers des »Welttraumes«2). »Wie jeder zum Leben stand, so stand
Und wie hoch oder gering Gundolf sein Dichtertum veranschlagen mag, diese Zu-
sammenstellung, die das Dichtertum ausstreicht, ist unbegreiflich. — Doch ist der
Satz so nebensächlich im-Gesamtzuge des Buches, daß man keinerlei prinzipiell-
ästhetischen Einwand daran knüpfen sollte.
') Siehe besonders S. 301 f. u. 304.
*) Gerade an solchem Punkt lassen sich — obwohl das Romantikkapitel durch-
aus nicht das vollkommenste des Buches darstellt — die Vorzüge der Gundolfschen
Betrachtweise erkennen. Schon vor ihm hat man jenen Begriff in Händen gehabt,
wer ihn aber nur aus den formulierten Gedanken der Romantiker herausliest,
wenn auch mit Bezug auf ihre tieferen metaphysischen Meinungen, wird ihn doch
schließlich nur einen Gedanken unter anderen gleichen Gewichtes finden. Gundolf,
hier ganz Schüler Nietzsches, geht zurück auf den Instinkt, der hinter dem Aus-
gesprochenen wirkt, den man im Schaffen einer Künstlergeneration, in ihrem Sprach-
st" unmittelbarer ergreift als in ihrem Denken. Und so weist er jener Auffassung
Stelle der stetigen, vom Menschen strömenden Leidenschaft den Orgiasmus losge-
rissener Affekte, eine Isolierung von Shakespeares Darstellungen der Verwirrung
und des Wahnsinns; Maler Müller: das Landschaftliche aus dem neuen, gar nicht
mehr rokokohaften Naturgefühl (dieser Abschnitt ist besonders reich an feinen
Einzelbeobachtungen); Heinse: die heidnische Sinnlichkeit. Bemerkenswert auch,
trotz der offensichtlichen Abneigung gegen den Plebejer in Bürger, die Charakte-
ristik seiner Macbethübersetzung.
In den Abschnitten, die Schillers rationalistisch-moralische Einengung des
Shakespeareschen Kosmos betrachten, sein Drama und die Oeberde seiner Sprache
ergebnisvoll mit Shakespeare vergleichen '), finde ich geradezu erschöpfend, was
über Shakespeares Verhältnis zur Moral gesagt ist (S. 293): »Nicht als ob es Shake-
speare an Sittlichkeit überhaupt im weiteren Sinne, d. h. an Wertung der Wirk-
lichkeit gefehlt hätte: aber er nahm die Maßstäbe dafür aus der Wirklichkeit selber,
und sie waren mehr dynamischer Natur als eigentlich moralischer. Shakespeare
sah im Untergang keinen Richterspruch. Auch kannte er kein Gut und Böse für
alle Fälle. Seine Frevler stürzen nicht, weil sie gegen jenes, ein für alle Mal über
ihnen aufgehängte Gut und Böse sich vergangen, das Sittengesetz verletzt und
Strafe verdient, sondern weil sie, jeder in jedem Falle anders, eine größere Macht,
d. h. eine stärkere Wirklichkeit gegen sich aufgerufen haben.
Diese stärkere Wirklichkeit kann sich zufällig verkörpern in dem unter den
Menschen gültigen, daher mächtigen Sittengesetz, wie es durch Staat oder Gesell-
schaft verteidigt wird. Die ,MoraI' ist für Shakespeare eine der Wirklichkeiten der
Welt, wie andere auch, und nicht immer siegreich.. .« Man kann nicht besser das
innere, philosophisch-künstlerische Gesetz des Shakespearedramas erkennen, die
tiefe, nur dem Leben verbundene Gerechtigkeit und was auf ihr beruht: daß in
seinem Drama immer aufs neue das Leben gewogen wird und immer neu im Gleich-
gewicht zu schweben scheint. —
Endlich sind die Seiten über die Romantik bedeutsam, wieder durch die ganz
kernhafte Erfassung des Verhältnisses. Wieder stehen nicht einzelne Begriffe und
Definitionen im Mittelpunkt, sondern der Grundtrieb der Romantik, die Bewegt-
heit, die Schau des Lebens als schwingender Bewegung, und von da aus dann die
Erklärung all ihrer Einzeltriebe, Abneigungen und Vorlieben. Daher dann die neue,
m der Praxis des Romantikers wirksame Vision Shakespeares, nicht mehr als Welt-
schöpfer, als Menschengestalter, sondern vor allem als Dichter des Alllebens, als
sprachlichen Schöpfers des »Welttraumes«2). »Wie jeder zum Leben stand, so stand
Und wie hoch oder gering Gundolf sein Dichtertum veranschlagen mag, diese Zu-
sammenstellung, die das Dichtertum ausstreicht, ist unbegreiflich. — Doch ist der
Satz so nebensächlich im-Gesamtzuge des Buches, daß man keinerlei prinzipiell-
ästhetischen Einwand daran knüpfen sollte.
') Siehe besonders S. 301 f. u. 304.
*) Gerade an solchem Punkt lassen sich — obwohl das Romantikkapitel durch-
aus nicht das vollkommenste des Buches darstellt — die Vorzüge der Gundolfschen
Betrachtweise erkennen. Schon vor ihm hat man jenen Begriff in Händen gehabt,
wer ihn aber nur aus den formulierten Gedanken der Romantiker herausliest,
wenn auch mit Bezug auf ihre tieferen metaphysischen Meinungen, wird ihn doch
schließlich nur einen Gedanken unter anderen gleichen Gewichtes finden. Gundolf,
hier ganz Schüler Nietzsches, geht zurück auf den Instinkt, der hinter dem Aus-
gesprochenen wirkt, den man im Schaffen einer Künstlergeneration, in ihrem Sprach-
st" unmittelbarer ergreift als in ihrem Denken. Und so weist er jener Auffassung