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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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Wirtz, Heinrich: Die Aktivität im ästhetischen Verhalten, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0538
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DIE AKTIVITÄT IM ÄSTHETISCHEN VERHALTEN. 53]

versagt (durch Abstumpfung und Ermüdung), so mag das Gedicht verstanden und
beurteilt werden, aber die Emotion bleibt aus.«

Damit wäre die Behauptung aufgestellt, daß beim stillen Lesen von Gedichten,
wofern nicht durch das gelesene Wort über das akustische Zentrum hinweg kin-
ästhetische Empfindungen ausgelöst werden, überhaupt kein ästhetisches Erleben
zustande käme. Das widerspricht der Selbstbeobachtung anderer sowie auch allen
Protokollen, welche mir aus den Versuchen mit stillem Lesen von Gedichten zur
Verfügung stehen. Wie will Groos es ferner erklären, daß eine Versuchsperson
angibt, daß sie durch den Inhalt eines Wortes, durch die Bedeutungserfassung eines
feinsinnigen Gedankens ästhetische Lust gehabt habe, die so stark war, daß sie
noch länger dabei verweilen mußte? Die Versuchsperson hat dabei nichts von
Organempfindungen gespürt. Das feine Wort, das sie in ein Phantasiespie! ver-
setzte, löste einen ästhetischen Lustwert stärkster Art aus ohne jede merkliche
Organempfindung. Die Angaben der Versuchspersonen über Organempfindungen
sind, obgleich sie nach jedem Versuch danach gefragt wurden, sehr spärlich im
Verhältnis zu der großen Anzahl der Versuche, und dann sind die Äußerungen
der spezifisch fhotorischen Versuchspersonen, welche am häufigsten von Organ-
empfindungen sprachen, keine Stütze der Groos'schen Ansicht. Eine motorische
Versuchsperson erklärt, daß sie keinerlei Organempfindungen (bei dem »Bildnis«
von Paulsen) gehabt habe, trotzdem es bei der Art, wie die Versuchsperson analy-
sierte, nahelag. Trotzdem sie den Linien nachging, keinerlei Bewegungstendenz,
alles bloß in der Vorstellung. Aber bei der größten Ruhe des Bildes starker Anreiz
zur Aktivität: sie muß sich äußern, wenn es auch nur ist, um das Erlebnis als
solches zu bestätigen. Das Verknüpftsein des ästhetischen Genusses mit Organ-
empfindungen findet nicht durchgängig statt, wie die Selbstbeobachtung deutlich
lehrt. Vielmehr ist der geistige Faktor oft so stark prävalierend, daß er jedenfalls
das Prius des ästhetischen Erlebens ausmacht und häufig keine merklichen Emp-
findungen neben sich hat. Groos bedarf noch der inneren Nachahmung, um die
äußere zu erklären: »Alle Gedichte ahmen wir innerlich nach.« Als Mittel zur
kinästhetischen Nacherzeugung nennt er die Fortleitung der Rumpf- und Muskel-
empfindungen zum Innern hin. Dann die Augenbewegungen, Nachahmung der
Form durch den Atmungs- und Sprechapparat (s. o. S. 175).

Trotzdem ich stark motorisch bin und mich tausendfach dabei überrasche, ist
bei mir beim tiefsten ästhetischen Genießen keine Imitation notwendig, wenn ich
auch nicht leugnen will, daß sie vorkommt. Man darf sie eben nicht fordern, son-
dern kann sie haben. Groos zitiert, um seine Ansicht zu stützen, Wölfflin:
»Michelangelo hat für die Muskelfunktionen diejenigen Ansichten gefunden, die den
Beschauer zwingen, den Vorgang mitzuerleben .... wo das Quattrocento die
leichtest faßbaren Erscheinungen aufsuchte, wie z. B. beim Ellenbogen die Profil-
ansicht, und Generation auf Generation dieses Schema wiedergab, da reißt ein
Mann mit einem Mal alle Schranken ein und gibt Gelenkzeichnungen, die beim
Beschauer ganz neue Innervationen erzeugen mußten« (Renaissance u. Barock 1904).
Dieses Wort Innervation legt Groos für seine Theorie aus. Es bedeutet aber offen-
bar nichts weiter als neue Wirkungen im allgemeinen, nicht nur Organempfindungen,
so auch wenn Groos selbst sagt, daß, wenn Berenson (Florenüne painters of the
renaissance) von Berührungs- und Bewegungswerten bei Michelangelo spricht, er
nicht Organempfindungen im Auge hat, sondern reproduktive Faktoren.

Groos scheint mir bei der Definition des ästhetischen Menschen Temperament
mit motorischer Veranlagung zu vermischen. Natürlich ist der Künstler kein Phleg-
matiker. Was soll die Theorie der inneren Nachahmung bei Dichtungen, in denen
 
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