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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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Lázár, Béla: Das Grundgesetz der monumentalen Skulptur
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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0006
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BELA LAZAR.

Für das im freien, weiten Räume stehende, auf Fernwirkung be-
rechnete Kunstwerk ist jedoch das Festhalten an der großen Kontur
Lebensfrage. Der Künstler muß sein Empfinden in eine einzige
Enface-Ansicht zu komprimieren trachten. So ist denn der Monu-
mentalwirkung nicht die Übung der Renaissance: das Denkmal in der
Mitte eines Platzes aufzustellen, günstig, sondern die architektonische
Aufstellung, die dem Monument ein Gebäude zum Hintergrund gibt,
vor dem es reliefartig, in voller Größe ausgebreitet, doch in eine
einzige dominierende Kontur gespannt, in eine einzige Bildfläche des
Fernbildes gefaßt sich uns darbietet.

Die Aufstellung in der Mitte des Platzes ist selbst der runden
Statue des Künstlers mit konkreter Phantasie, dem in Rondebosse ge-
arbeiteten Werk nicht günstig, doch die Monumentalwirkung schädigt
sie geradezu dadurch, daß sie die Bewegung nicht an einen einzigen
Gesichtspunkt knüpft. Die Gleichwertigkeit mehrerer Ansichten ist
nämlich sehr selten, fast unmöglich, zumal bei der Gruppe, in der die
einander berührenden, nebeneinander gestellten und ineinander ge-
fügten Figuren klare Gliederung, angenehmen Rhythmus, edles Gleich-
maß zumeist bloß in einer einzigen Hauptansicht erhalten und der
Künstler froh ist, wenn es ihm vergönnt war, seine Idee einmal, doch
in voller Unmittelbarkeit zum Ausdruck zu bringen. Denn bei der
Gruppe genügt nicht das gemeinsame Bewegungsziel, wie bei der
Gruppe der Tyrannentöter; man muß auf geschlossenen Bewegungs-
zusammenhang hinarbeiten, in dem eine Gestalt auf die andere wirkt
und die Bewegung der einen notwendigerweise die der anderen er-
gänzt, wo dann die Bewegung nur in der Hauptansicht ganz ver-
ständlich wird, dort, wo die Festhaltung der Geschlossenheit ge-
glückt ist, wo die Gruppe — gegenüber dem Räume, in dem sie zur
Aufstellung gelangte — eine besondere Raumeinheit, ein rhythmisch
gegliederter Erscheinungszusammenhang ist. Zu welchen Verirrungen
die Vernachlässigung dieser Gesetzmäßigkeit, namentlich in der monu-
mentalen Skulptur, führt, das zeigt Rodins Gruppe: -Die Bürger von
Calais«, die von keinem Punkte aus in ihrer Gänze zu sehen ist und
allen ihren packenden Detailschönheiten zum Trotz, als Einheit voller
Konfusion, ein Sichschneiden und -decken der Figuren ist.

Rodin hat hier die verschiedenen Erscheinungsformen eines einzigen
Gefühls, des Leidens, die individuellen Variationen der Geste demütigen
Sichergebens dargestellt, wie sie der Zufall auf Grund der in den
Tiefen der Seele wurzelnden Triebe auslöst. Auslöst, nebeneinander,
ohne gegenseitige Wirkung und ohne jede Verbindung. Ihn interes-
sierte die abwechslungsreiche Vielfältigkeit, nicht der einheitliche Ab-
wechslungsreichtum. So kam diese unorganisierte Menge zustande,
 
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