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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0086
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BESPRECHUNGEN. 7Q

Galerien, Museen, Behandlung durch die Kunst, Parodie und Karikatur, Verbreitung
durch den Handel usw. Was der Wertende bei einem historischen Individuum zu-
nächst vorfindet, ist seine Erscheinungsform, d. h. der Ruhm. Erst aus ihr macht
er einen Rückschluß auf das Individuum an sich. Der Verfasser gelangt zu Sätzen
wie: »Nur von denen, die aus gewissen Gründen berühmt geworden sind, er-
scheinen uns einige als Genies« (S. 13). Die Eminenz genügt nicht im allerent-
ferntesten, um das Individuum als Genie erscheinen zu lassen« (S. 24). »Nicht die
Eminenz des Individuums hat die Säkularfeier, sondern die aus anderen Gründen
erfolgende Feier hat den Glauben an die Eminenz des Individuums zur Folge« (S. 84).
>Das Objekt ist sekundärer Faktor« (S. 108). »Friedrich der Gr. wird erst wieder
berühmt, als die Romantik aufgehört hat und ein politischer Liberalismus mit einer
Vorliebe für französisches Wesen Macht gewinnt. Ohne die Reaktion in Deutsch-
land, das Bourbonentum in Frankreich wäre Napoleon nie zu der Größe empor-
gewachsen, in der er einmal erschien. Shakespeare ist zu einem wichtigen Faktor
des deutschen Geisteslebens geworden, nicht weil er eminent war, sondern weil er
als eminent erschien« (S. 281).

Die ruhmbildenden Faktoren auf der einen, der Nachahmungstrieb auf der
anderen Seite rücken das Individuum an sich in immer weitere Ferne. Persönlich-
keitsbewertung ist ein Nachahmungsakt. Wer nach der Lektüre Nietzsches Sokrates
gering einschätzt, ahmt Nietzsche nach. Die Verehrung Shakespeares geht größten-
teils auf Lessing zurück usw. Für Hirsch scheint es möglich, daß aus der Goethe-
müdigkeit auch einmal ein völliges Goethevergessen werde (S. 273).

Aus diesen Prämissen zieht der Verfasser den Schluß, daß der Biographik eine
Fülle neuer Aufgaben erwachsen. Vor allem ist alle Biographik durch eine »Phäno-
graphik« zu ergänzen. Der Verfasser steht nicht an, das Werk Albert Ludwigs
über Schiller und die deutsche Nachwelt als das bei weitem wichtigste der ge-
samten Schillerliteratur anzusehen, ja als das einzige, durch das eine Forschung
über das Individuum Schiller >an siclu erst möglich wird.

Unter den Aussagen des Historikers sind die darstellenden von den wertenden
zu unterscheiden. Die darstellenden Aussagen ergeben den Grundstock uner-
schütterlicher Tatsachen. An einer ganzen Anzahl von Feststellungen über Geburts-
und Todesjahr, über Beruf und Nationalität, Quellenangaben usw. läßt sich nicht
rütteln. Alles andere ist »fable convcnac . Es herrscht Übereinstimmung darüber,
daß der König Lear ein Werk Shakespeares und daß er eine geniale Tragödie ist.
Aber die erste Übereinstimmung ist auf ganz andere Weise zustande gekommen
als die zweite. Zu jener hat nur das Objekt, zu dieser vor allem das Subjekt, nur
in geringem Maße das Objekt beigetragen (S. 246). Die Übereinstimmung über
den Wert geht auf das Subjekt und damit auf alle Faktoren, wie Nachahmung, Ver-
ehrungsbedürfnis usw. zurück. Daß wir also gerade den König Lear für eine be-
sonders geniale Tragödie halten, ist mehr oder weniger Zufall. Hätte dieser es
anders gewollt, so würden wir heute an Stelle des Lear vielleicht ein Drama Mar-
lows verehren. —

Die Kritik dieser Ansichten kann sich nicht auf Einzelheiten einlassen. Nur
die Basis des Irrtums soll aufgezeigt werden. Das Entscheidende ist die dem Ver-
fasser anscheinend selbstverständlich dünkende Voraussetzung von der absoluten
Subjektivität aller Werte. Ohne die Tatsache des Traditionalismus, der social lieiv-
dify, wäre ihm die vollkommene Übereinstimmung in Wertfragen unerklärlich (S.251).
Es ist die zur Einseitigkeit gesteigerte Betrachtungsweise der Kollektivpsychologie,
die hier versagt. Hirsch nimmt die Masse, wenn er sie auch in Grade einteilt,
wesentlich als ein Ganzes. Ein großer Teil seiner Ausführungen trifft auf die un-
 
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