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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0088
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BESPRECHUNGEN. 81

Geschichte bedeutet eine objektive Entwicklung. Nur ein Teil der Geschichte
hat es auch mit den Meinungen über die Dinge zu tun. Man könnte einwenden:
die Meinungen beeinflussen aber auch die objektive Entwicklung. Durch den Ruhm
Nietzsches werde ich z. B. veranlaßt, mich mit ihm zu beschäftigen, um dann viel-
leicht wichtige sachliche Anstöße zu erfahren. Dann spielt der Ruhm aber nur die
Rolle des Vermittlers. Es ist gewiß interessant, der Genesis dieses Mittlers nach-
zugehen, aber damit hört die objektive Entwicklung nicht auf, den eigentlichen
Gegenstand der Geschichte zu bilden.

Wären die Werte etwas schlechthin Subjektives, dann hätte die Bezeichnung
Klassiker in der Tat nur den Sinn, den der Verfasser ihr beilegt. Wir könnten
dann täglich neue Klassiker haben. Warum haben wir aber nur wenige? Weil
es eine feste Rangordnung der Werte gibt, die, wenn auch nicht immer in ihrer
ganzen Ausdehnung, so doch im wesentlichen anerkannt wird. Es ist kein Zufall,
daß Shakespeare uns seit 150 Jahren als der größte Dramatiker gilt. Shakespeare
ist eben der größte Dramatiker, und Marlow könnte seine Stelle nicht vertreten.
Nicht weil die Mehrzahl an der Schätzung Goethes als Lyriker gewohnheitsmäßig
festhält, sondern weil sich die Überlegenheit der Goetheschen Gedichte mittels
ästhetischer Kriterien nachweisen läßt, gilt er als unser größter Dichter. Wer frei-
lich an solche Kriterien nicht glaubt, dem ist nicht zu helfen. Daß gewisse Wert-
schätzungen Zeitschwankungen unterliegen, von außen, nicht von innen bedingt
sind, wird niemand leugnen. So ist z. B. die Berühmtheit Hamlets unter Shake-
speares Tragödien gewiß auch zum Teil auf fremde Faktoren zurückzuführen. Auch
die Berühmtheit Dürers ist durch solche Faktoren mitbedingt. Aber man versuche
einmal, Grünewald an seine Stelle zu setzen. Die ästhetischen Werte sind auf beiden
Seiten so hoch, daß sich eine Rangabstufung kaum vornehmen läßt. Aber Dürer
besitzt Werte, die, ohne eigentlich ästhetische zu sein, doch für die Gesamtbewer-
tung mitsprechen. Werte wie die Art seiner Gemütsrichtung und seine universelle
Menschlichkeit, die niemand zufällige Erscheinungsformen oder ruhmerweiternde
Faktoren nennen wird, sind für die Erhebung Dürers zum Klassiker sicherlich wich-
tiger gewesen, als die gewiß auch bedeutungsvolle Tatsache, daß er in Nürnberg
gelebt hat.

Als die Aufgabe, die durch das Buch von Hirsch zwar angeregt, aber nicht ge-
löst ist, scheint folgendes übrig zu bleiben. Es ist zu untersuchen: In welchem
Verhältnis stehen die wirksamen Kräfte jeder Epoche zu denjenigen Namen und
Werken, welche die Epoche am meisten rühmt? Zweifellos wird sich eine Dis-
krepanz zwischen beiden herausstellen. Das am meisten Genannte ist nicht immer
das am meisten Wirksame. Es wird die Tatsache zu verfolgen sein, warum große
Werte unentdeckt oder wenig bekannt bleiben, während geringe berühmt werden.
Aber auch die Tatsache einer gewissen Selbstkorrektur der Geschichte wird nicht
verborgen bleiben. Immer wird das Verhältnis der tatsächlich vorhandenen und der
wirksamen und berühmten Werte Licht über den Charakter einer Epoche verbreiten
und die Erforschung dieses Verhältnisses zu den vornehmsten Aufgaben des Kultur-
historikers gehören. Aber an der Objektivität der Werte wird dadurch nichts ge-
ändert, daß sie verborgen bleiben können, und der Wandel der Urteile wird uns
nicht von der Überzeugung abbringen, daß es Werte gibt, die dem Wechsel der
Generationen trotzen, wie daß diese Werte durch alle Nebel der Konventionen
hindurch dem, der sie erkennen will, auch klar erkennbar sind. Mit anderen
Worten: daß es auch für die geistigen Werte eine Geschichtsschreibung gibt, die
wenigstens annähernd, nichts anderes als Darstellung ist.

Berlin. Alfred Baeumler.

Zeilschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. X.
 
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