Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

DOI Artikel:
Besprechungen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0095
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
88 BESPRECHUNGEN.

Faßt er hier das Gebiet des Ästhetischen zu eng, so erweitert er nach einer
anderen Richtung die Grenzen der Ästhetik auf ungebührliche Weise. Weite Strecken
der Kunstgeschichte, der Kulturgeschichte und der technischen Disziplinen fielen
nach Meumann in das Gebiet der Ästhetik. Wenn er der empirischen Ästhetik die
Aufgabe setzt, das Auftreten gewisser zeitgenössischer Erscheinungen in der Kunst
zu erklären, so überschreitet er offenbar selbstgesteckte Grenzen. Eine solche Er-
klärung ist Aufgabe des Kulturpsychologen, nicht des Ästhetikers. Eine seltsame
Inkonsequenz ist es, wenn der Verfasser anfangs erklärt, die Ästhetik wolle weder
Vorschriften aufstellen noch Ideale entwickeln, und im Verlaufe seiner Darstellung-
gewisse Erscheinungen der modernen Kunst fortwährend kritisiert. Dabei geht er
von unausgesprochenen Normen und Idealen aus, wie die Bemerkung gelegentlich
Hodlers enthüllt: es sei eine weit höhere Kunst, eine gleichmäßige Bewegung der
Massen so darzustellen, daß nicht nur das Schematische und Gleiche, sondern auch
die volle Individualität des einzelnen in der Masse zum Ausdruck komme. Hodler
wollte eben eine Masse darstellen, in der jede Individualität verschwindet.

Die Forderung einer objektiven Ästhetik ist zweifellos wohlberechtigt. Nicht
nur das Subjekt, auch das Objekt fordert einen Platz in der Ästhetik. Der Hin-
weis darauf ist ein großes Verdienst Meumanns. Hier liegen Aufgaben der
Zukunft, bei deren Lösung man sich freilich eher an Hildebrand als an Semper
anschließen wird. Mit dem Hinweis auf das Objekt hängt auch der Hinweis auf
das Motiv der Darstellung zusammen. Diesen Prozeß faßt Meumann allerdings
sehr äußerlich mechanisch auf. Das dunkle, allgemeine Streben erhält nach ihm
Form und Begrenzung durch die Gesetze der Kunst. Die Kunst dämmt das
Streben nach Ausdruck ein (z. B. das Metrum beim Dichter) — in dieser wesent-
lich negativen Art wird der Vorgang geschildert. Meumann vergißt, daß die künst-
lerische Gesetzmäßigkeit vor allem positive Werte vermittelt. Es ist überhaupt
nicht so, als ob der vorbereitende Zustand (künstlerisches Erlebnis und Ausdrucks-
streben) bei allen Künstlern nach demselben Schema verlaufe und die Darstellung
nur äußerlich dazu trete. Die Verschiedenheit der Kunstgattungen muß nicht erst
in den Formen der Darstellung, sondern schon in der Art des Erlebnisses gesucht
werden. Das Erlebnis des Musikers ist ein anderes als das des Architekten. Dieser
hat dabei kubische, jener akustische Vorstellungen. Das ist kein äußerlicher Unter-
schied des Materials, sondern ein wesentlicher Unterschied des künstlerischen Er-
lebnisses.

Eigentümlich ist Meumanns Widerlegung der Einfühlungstheorie. Er erklärt
z. B., daß bei den ästhetischen Eindrücken der Architektur das Urteil auf bloßen
Vorstellungen, nicht auf Einfühlungen beruhe. Ich sehe, daß die einzelnen Teile
des Gebäudes schön abgestufte Proportionen haben usw. Daß die Einfühlung
sich auf klar erfaßten Vorstellungen aufbauen kann, wird kein Einfühlungstheo-
retiker bestreiten. Wie kommen wir aber dazu, diesen Vorstellungen einen be-
sonderen Gefühlswert beizulegen, sie »schön': zu nennen? Meumann nimmt un-
befangen das entscheidende Wort voraus, indem er die gesehenen Proportionen
bereits schöne nennt. Wie wir dazu kommen, gerade diese Proportionen schön
zu nennen, will ja die Einfühlungstheorie erklären. Wir nennen sie schön, weil sie
ein harmonisches Lebensgefühl auszudrücken scheinen. Der bloße Verstand kann
Proportionen niemals schön, sondern höchstens dem Zweck angemessen, technisch
praktisch und dergleichen finden.

Ein wenig glücklicher Gedanke war es, mit der ästhetischen Theorie fortlaufend
eine Kritik der künstlerischen Bestrebungen der Gegenwart zu verbinden. Wir
haben in unserer Darstellung von jeder Polemik gegen die hier geäußerten Ge-
 
Annotationen