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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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Hamann, Richard: Zur Begründung der Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0133
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126 RICHARD HAMANN.

Wahrnehmungen hinzugesellen, die das Urteil bestimmen, beweist
schon, daß sich die Prädikate wirklich und unwirklich nicht auf den
wahrgenommenen Inhalt beziehen, sondern auf etwas, was über ihn
hinausgreift und, wie wir überzeugt sind, die Möglichkeit besagt, auf
ihn zu wirken, mit unseren Bewegungen ihm nahe zu kommen. So-
lange ich nichts will, als das Gebilde, das wir Mensch nennen, an-
schauen, ist es völlig gleichgültig, ob ich das Gebilde als Wirklichkeit
oder als Spiegelbild sehe. Erst wenn ich die Absicht habe, mit ihm
handgemein zu werden, mich ihm zu nähern oder mich von ihm zu
entfernen, dann bedeutet das Spiegelbild etwas ganz anderes als das
Gebilde, dem ich das Prädikat wirklich verleihe.

So entstehen die Begriffe wirklich, unwirklich, Schein, Illusion,
Täuschung. Alle besagen sie eine Beurteilung in der Richtung, die
wir andeuteten. Derselbe Wahrnehmungsinhalt, der in dieser Urteils-
bedeutung als wirklich anerkannt wird, wird als unwirklich für
dieses Telos verurteilt. Mit den Ausdrücken Illusion und Täuschung
kommt noch die Beziehung zu einem Subjekt hinzu, das täuschte
oder sich täuschen ließ und damit herabgewürdigt wird. Daraus
ergibt sich: das ästhetische Gebilde ist weder Wirklichkeit noch
Schein, weder Illusion noch Täuschung, weder Traum noch Leben,
denn mit allen diesen Prädikaten wird es eben fremdbedeutsam und
somit unästhetisch. Wir können wohl sagen: das, was vom Stand-
punkte der Objektwissenschaften Schein ist, kann ästhetisch genau
so wirksam sein, wie das, was wirklich ist, ja wir können finden,
daß das für die Realitätsbetrachtung Unwirksame, der Schein, für
die ästhetische Betrachtung besonders wertvoll ist; aber damit hört
es auf Schein zu sein, wird gewissermaßen ästhetische Wirklichkeit,
ästhetisch wirkungsvoll, wird ästhetisches Gebilde, das jenseits von
Schein und Wirklichkeit steht. Ebenso hört ja auch das ästhetische
Gebilde auf, Erscheinung zu sein, und hören seine Elemente auf, ge-
geben zu sein, da ja in beiden Ausdrücken die Beziehung auf das
zu erschließende Wirkliche, die Möglichkeit und Tatsache der Fremd-
bedeutung beschlossen liegt.

Ebenso verhält es sich mit den Prädikaten von Wahr und Un-
wahr, Wahrhaftigkeit und Lüge. Diese Prädikate beziehen sich auf
Worte, Zeichen willkürlicher Art, und diese bezeichnen einen Tatbe-
stand, der auch durch Wahrnehmungen oder durch Schlüsse auf
Grund von Wahrnehmungen unmittelbar, nicht durch Zeichen ver-
treten, bewußt werden kann. Hier bedeutet Wahrheit, daß die Zeichen
mit dem, was sie bezeichnen, nach der Norm, nach der sie Gültig-
keit haben, übereinstimmen. Es genügt also nicht, die Zeichen ver-
standen zu haben, einen Inhalt durch sie empfangen zu haben, der
 
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