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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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Feldkeller, Paul: Der Anteil des Denkens am musikalischen Kunstgenuß, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0187
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180 PAUL FELDKELLER.

Nicht aber bloß mit Urteilen wie »nun kommt der Hauptsatz« (das
wäre die hahnebüchene Betrachtung des lernenden musikalischen
Handwerkers), sondern mit Phantasieformen des spielenden
Urteilens, die alle entgegenkommenden Inhalte zu erfassen bereit
sind, sich aber wegen dieser Inhaltlosigkeit nur kümmerlich in Worte
umsetzen lassen.

Abgesehen von diesen Erwartungen, die auch beim ersten Anhören
eines Musikstückes auftreten, sind Präperzeptionen, wie sie sich
nach wiederholtem Hören einstellen, für höheren Kunstgenuß wegen
der herzustellenden Apperzeptionen unerläßlich. Es sind ja unendlich
mannigfaltige, vom Komponisten zum Teil ganz unbeabsichtigte Ge-
nüsse, die jeder sich aus einem Musikstück herausholt; der vom
Künstler gewollte Genuß kann aber doch nur dann zustande kommen,
wenn sich dies urteilende Wissen der Präperzeption voll und ganz zur
Geltung zu bringen vermag. Wo, wie beim Beginn des Vortrages
einer Komposition, ohne daß man weiß, welche gespielt wird, eine
das speziell Kommende vorbereitende Präperzeption mit Fleiß häufiger
gehindert und sogar künstlich getäuscht wird, so daß sie immer wieder
sich betrogen fühlt und von neuem einsetzen muß und der Hörende
unablässig in peinliche Verlegenheit gesetzt wird, da ist Kunstgenuß
höherer Art unmöglich. Dieser Fall liegt beim Potpourri vor. Auf eine
weitere Art der Urteile, welche die Tatsache des Bekanntseins zum
Gegenstand haben und die Lust des Wiedererkennens begleiten, sei
hier nur hingewiesen.

Eine andere hierher gehörige Verstandesbetätigung ist weit weniger
in Übung als die soeben genannten. Es ist dies das Vermuten, Erraten
der Absichten des Künstlers, die man »treffen« und in denen man
irren kann. Man darf wohl sagen, daß viel mehr als der kleine Haufe
der Musikgelehrten und -ästhetiker in dieser Weise nicht Musik hören.
Darum ist Hanslick im Unrecht, wenn er diese Art des Musikhörens
zu einer regulären stempeln möchte. Sie ist mit nichten »der wichtigste
Faktor in dem Seelenvorgang, welcher das Auffassen eines Tonwerks
begleitet und zum Genüsse macht« (Vom Musikalisch-Schönen, Leipzig
1874, S. 105 f.). Dagegen haben seine unmittelbar darauf folgenden
Sätze zum größten Teil unsere Zustimmung: »Es ist die geistige Be-
friedigung, die der Hörer darin findet, den Absichten des Komponisten
fortwährend zu folgen und voranzueilen, sich in seinen Vermutungen
hier bestätigt, dort angenehm getäuscht zu finden. Es versteht sich,
daß dies intellektuelle Hinüber- und Herüberströmen, dieses fortwäh-
rende Geben und Empfangen, unbewußt und blitzschnell vor sich
geht. Nur (?) solche Musik wird vollen künstlerischen Genuß bieten,
welche dies geistige Nachfolgen, welches ganz eigentlich ein Nach-
 
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