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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0215
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208 BESPRECHUNGEN.

Anstoß genommen haben. Ich glaube, man wird der so modifizierten Anschauung
eine große und weitgehende Berechtigung nicht absprechen können.
Berlin-Haiensee.

Richard Müller-Freienfels.

Imago, Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften.
Bd. Iff. 1912ff. Wien, Verlag von Hugo Heller u. Co. — Siegmund
Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci.
Wien, Franz Deuticke, 1910. 8°. 71 S. — Otto Rank, Das Inzest-
Motiv in Dichtung und Sage. Orundzüge einer Psychologie des
dichterischen Schaffens. Wien, Franz Deuticke, 1912. 8°. 685 S. — Theodor
Reik, Flaubert und seine »Versuchung des heil. A ntonius«.
Minden, J. C. C. Bruns, 1912. 8°. 187 S. — Theodor Reik, Arthur
Schnitzler als Psycholog. Minden, J. C. C. Bruns, 1913. 8°. 302 S.
Die von Siegmund Freud begründete Psychoanalyse erhebt den Anspruch,
eine vollwertige Psychologie zu sein, die als solche auch Einfluß auf die Geistes-
wissenschaften nehmen darf. Wie sie sich zur Ästhetik stellt, läßt sich aus den
angeführten Büchern und aus mehreren Beiträgen zur Zeitschrift »Imago« ersehen.
Freud ist von einer ärztlichen Beobachtung ausgegangen. Hysterische Krank-
heitserscheinungen, so glaubte er zu erkennen, entstehen, indem eine Person pein-
liche Eindrücke und Vorstellungen aus ihrem Bewußtsein verdrängt und dadurch die
mit ihnen verbundenen Affekte an der befreienden Abfuhr verhindert. Jene Vor-
stellungen werden sichtbar, sobald die hemmende und regelnde Tätigkeit des Be-
wußtseins aufgehoben ist, z. B. bei den anscheinend sinnlosen Einfällen, die plötz-
lich emporsteigen. Es soll daher der Arzt sich vom Kranken alle solche zusammen-
hanglosen, unpassenden Einfälle erzählen lassen, um die verdrängten Vorstellungen
und Affekte hervorzulocken. Das hiermit empfohlene Beichtverfahren erinnert an
die jesuitischen Übungen und ihre drei Hauptmittel: Betrachtung, Beschauung und
Oewissenserforschung. Namentlich diese letzte Form der Selbstprüfung hat doch
entschieden eine Verwandtschaft: »Die Gewissenserforschung ist ein Durchsuchen
der Erinnerung, des eigenen Gedächtnisses, und dient zu einer Reinigung des
Willens. Sie soll die Seele in den Stand setzen, alle ihr untergeordneten Neigungen
aus sich zu entfernen, alles Persönliche, alle Leidenschaften und Begierden ab-
zustreifen ').c Aber die Psychoanalyse geht nun weit über ältere seelenärzt-
liche Verfahrungsweisen hinaus, da sie behauptet: die unbeaufsichtigten Regungen
enthalten die verdrängten Vorstellungen nicht in der schwer erträglichen ursprüng-
lichen Inhaltlichkeit, sondern in einer Verhüllung, die der Beobachter erst abstreifen
muß. Hat man die Deutung gefunden, so zeigt sich, daß alles Verdrängte aus
dem Geschlechtsleben stammt, genauer: aus den erotischen Erlebnissen und Phan-
tasien der Kindheit. Während die ältere Psychologie sich von der eigentümlichen
Beschaffenheit des Unbewußten kein Bild zu machen vermochte, meint Freud als
die Natur des Bewußtseinsunfähigen die zwar unterdrückten, aber fortwirkenden
sexuellen Wünsche des Kindes nachgewiesen zu haben.

Diese Wünsche treten beim normalen Menschen nicht in den auffälligen Sym-
ptomen des Hysterikers hervor, sondern in den scheinbar harmlosen Fehlleistungen
des Vergessens, Vertauschens, Sichversprechens usw. Vor allem in den Traumphanta-
sien. Der Traum ist eine Wunscherfüllung, die sich allerdings der merkwürdigsten

') Manresa oder die geistlichen Übungen des hl. Ignatius, bearb. von Franz
Anton Schmid, 5. Aufl. bei Friedr. Pustet, Regensburg 1890.
 
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